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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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freundlich zugenickt hatte, trank ich die restliche Flasche leer. Die Rothaarige schaute immer wieder zu mir herüber. Ich merkte, wie mir das Blut in den Kopf stieg, bestellte noch einen Grappa und einen Espresso, zog Rinos Visitenkarte aus dem Seitenfach meiner Tasche und überlegte, ihn anzurufen, ließ es dann aber bleiben. Die Straße, in der Rino wohnte, lag in der Nähe der Via dei Volsci, von der ich annahm, daß sie etwas mit Vittorios Schlüssel zu tun hatte. «Natürlich», sagte ich halblaut. SL waren nicht Initialen eines Namens, sondern die Buchstaben standen für San Lorenzo, das Viertel, in dem sich die Straße befand. Ich trank den Schnaps und den Kaffee aus, zahlte und fuhr hin.
    Als ich in der Via dello Scalo San Lorenzo ausstieg, verließ mich der Mut. Was wollte ich hier?
P. SCIARRA
las ich wenig später, 1926
specchi cristalli e vetri
. Wahrscheinlich hatte Vittorio ein zusätzliches Lager in einer der aufgelassenen Fabriken angemietet.
    Auf dem Largo degli Osci streunten Katzen, suchten nach Essensresten. Neben den Müllcontainern standen Gemüsekisten, in denen Artischocken- und Salatblätter verfaulten. Man hatte den Markt renoviert; an den Außenwänden der Stände hingen jetzt Reproduktionen von alten Schwarzweißphotos, eines zeigte San Lorenzo nach den Bombardierungen von 1943, auf einem anderen waren Schuhmacher zu sehen, die sich zu einer Versammlung eingefunden hatten. Überall waren Spuren von Verwüstungen: Liebespaare hatten ihre Initialen in Herzen gemalt, Sprayer ihre Erkennungszeichen hinterlassen.
    Ich lief die Via dei Volsci entlang. Wo den Schlüssel hineinstecken? Ein Haustor reihte sich an das andere. Und überall waren Menschen, Jugendliche auf ihren Mopeds, umringt von jungen Frauen, die ihre Bäuche zeigten, ältere Männer, die anAutos und Hausmauern gelehnt rauchten und redeten. «Guten Abend, Signora.» Ich nickte, ging schneller, wie ertappt.
    Unter der Pergola der Bar Marani war es voll. Unschlüssig blieb ich stehen, tat, als wartete ich auf jemanden, betrat dann die Bar und bestellte ein Glas Rotwein an der Theke. Mit dem Rücken zu mir stand ein Mann, der eine Geschichte nach der anderen erzählte, als versuchte er, aus seiner Begleiterin die letzten Reste Interesse, die sie noch an ihm hatte, herauszureden. Ich schaute in ihr gelangweiltes Gesicht, bis sie meine Blicke bemerkte.
    Die Frau an der Kasse zeigte jemandem Photos von ihren Kindern und lachte; alles an ihr war orange, selbst die Haare. Ich fing an, die unter der Pergola sitzenden Frauen zu betrachten; eine stand in diesem Moment auf und verabschiedete sich von ihren Freunden. Sie ging nicht, sie schritt davon, setzte den Fuß so, daß man glauben mochte, sie versuchte dem Boden aus dem Weg zu gehen. Ich stellte sie mir mit Vittorio im Bett vor, doch je länger ich unter den anwesenden Frauen nach einer möglichen Liebhaberin suchte, desto weniger wahrscheinlich schien es mir, daß Vittorio fremdging. Ein Liebesnest in der Via dei Volsci?
    Nach dem dritten Glas suchte ich nach einem Platz zum Sitzen, es war aber nichts frei. Der Mann neben mir redete noch immer. Er zog jetzt über seinen Bruder her, den er einen Geizhals nannte. «Er hortet und hortet, wozu? Ständig verschiebt er sein Leben auf später, das es möglicherweise gar nicht geben wird.» Schon erzählte er von seinem Freund, der mit dreiundvierzig Jahren an Hodenkrebs verstorben sei, und von der Freundin seiner Schwester, die mit fünfunddreißig einen Schlaganfall erlitten habe. Auf die Krankheiten folgten Unfälle und Mißgeschicke anderer Art, sogar ein Mordfall, der sich unweit des Friedhofs Campo Verano zugetragen haben soll. Seine Begleiterin versuchte gelegentlich, selber etwas zu erzählen,aber der Mann fand in dem, was sie sagte, nur das Stichwort für eine neue Geschichte.
    Meine Beine schmerzten, das Herz klopfte schneller. Nachtdienste versetzten mich in den Zustand eines nicht enden wollenden Jetlags.
    Ich fürchtete die Begegnung mit Vittorio und zögerte, nach Hause zu gehen. Erst als mich ein Betrunkener anredete und mir nicht von der Seite wich, beschloß ich heimzufahren.
    Ich hielt Vittorios Schlüssel griffbereit, wagte es aber nicht, ihn auszuprobieren, obwohl sich inzwischen deutlich weniger Leute auf der Straße befanden. Die Mopedfahrer und ihre jungen Frauen waren in den umliegenden Pubs und Discos

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