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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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verschwunden. Ich schwankte. Zweimal blieb ich vor einem Hauseingang stehen, blickte mich um, doch jedesmal glaubte ich, daß mir jemand vom Fenster des gegenüberliegenden Hauses zuschauen würde. Ich wußte nicht, was größer war: die Angst davor, etwas Ungehöriges zu erfahren, oder dabei entdeckt zu werden, wie ich an einem fremden Schloß hantierte.
    Nachdem ich abgebogen war, um einen Blick in Rinos Straße zu werfen, fand ich mich in einer unbekannten Gegend wieder. Es roch nach Katzenkot und Pisse. Ich ging bis zur nächsten Querstraße vor, konnte aber keine Anhaltspunkte finden. Daß meine Erinnerungen nicht stimmten, beunruhigte mich. Ich sah mich hilfesuchend um, aber da war niemand. Der Mann, der vor wenigen Minuten an mir vorbeigegangen war, hatte sich auf seine Vespa gesetzt und war losgefahren.
    Erst als es unter einem abgestellten Kleinlastwagen raschelte und ich erschrocken zur Seite sprang, kam ich auf die Idee, den gleichen Weg zurückzugehen.
    Vittorio saß in der Küche, grüßte nicht, als ich nach Hause kam. Er schwieg auch noch, als er sich zu mir legte. Daß er mir keine Gelegenheit gab zu widersprechen, machte mich wütend.
    Â«Vittorio», sagte ich nach einer Weile. «Bist du noch wach?» Schweigen.
    Ich stand noch einmal auf, tappte im Dunkeln in die Küche, öffnete den Kühlschrank, wich vor seinem grellen Licht zurück. Das Mineralwasser war ausgegangen, keiner hatte daran gedacht, es nachzukaufen. Das Schnappgeräusch der zufallenden Kühlschranktür machte mich hellhörig: In einem der Nachbarhäuser fand ein Fest statt; es wurde gelacht, Musik ertönte in unregelmäßigen Intervallen.
    Ich tastete nach der Obstschüssel, aber meine Hand traf den Toaster. Vittorio hatte ihn schon lange nicht mehr benützt. Ich verharrte eine Weile an der Anrichte, setzte mich schließlich auf den Hocker. Trotz der Schwüle, die in der Wohnung hing, fühlte er sich kühl an.
    Dann glaubte ich, eine Hand auf meiner Schulter zu spüren, die sich zärtlich über den Nacken ins Haar schob. «Mach weiter», sagte ich leise, «hör nicht auf.» Er war immer nachgekommen, irgendwann. All die Jahre war er mir in die Küche gefolgt. Seine Hände hatten die Sätze weggewischt, hatten so lange gespielt, bis wir beide lachen mußten.
    Langsam rutschte ich vom Hocker, ging rüber zum Fenster. Die Wäscheleinen reihten sich aneinander wie unbeschriftete Zeilen. Ich mußte daran denken, wie viele Menschen sich in diesem Augenblick liebten, wie viele aus dem Leben schieden, zufällig oder in letzter Konsequenz. Irgendwo, fiel mir ein, lag noch ungebügelte Wäsche. Ich bewegte mich auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer, zog ein Leintuch aus dem Stoß, breitete es auf dem Sofa aus, bettete mich so gut ich konnte auf dem zerknitterten Stoff, den ich über mir zusammenschlug.
    So schlief ich ein.

XII
    Irma hatte Schuhe gekauft und fragte sich zum ersten Mal nicht, wie viele Schritte sie damit noch gehen würde. Sie hatte sogar ein halbes Glas Weißwein getrunken, obwohl der Konsum von Alkohol im ersten halben Jahr nach der Transplantation untersagt war, weil er den Medikamentenspiegel verfälschte. Diese Unbeschwertheit war neu. Das Sterben auf Raten hatte sich in Leben auf Raten verwandelt. Sie lief herum wie die anderen auch, geschäftig, ohne genau zu wissen, was sie suchte, wühlte in den Körben vor den Geschäften, roch an Seifen, blätterte in billigen Taschenbüchern. Sah sie einen Passanten, der ihr gefiel, stellte sie ihn sich unbekleidet vor.
    Eine Weile beobachtete sie einen jungen Mann vor dem Stephansdom, der für ein Konzert warb; er hatte dunkle, große Augen, ein Gesicht, von dem sie annahm, daß es auch während des Orgasmus schön blieb. Sie ging in die nahegelegene Konditorei auf die Toilette, weil sie Lust verspürte, sich zu berühren. Auf dem Heimweg, als sie wieder am Stephansdom vorbeikam, wollte ihr der junge Mann einen Werbefolder in die Hand drücken. Er mochte vielleicht zwanzig sein; Irma fiel der Bericht eines Neurologen über einen Achtzehnjährigen ein, der beim Volleyballspielen so schwer gestürzt war, daß er eine Hirnblutung bekommen hatte. Alle Hirnkammern, wo sonst nur Liquor zirkuliert, waren in kurzer Zeit mit Blut gefüllt gewesen; man hatte den Mann mit Infusionen und einem Rotlichtwärmegerät auf

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