Über Nacht - Roman
Perücken spezialisiert, nachdem immer mehr orthodoxe Jüdinnen zu ihr gekommen waren. Die meisten trugen Perücken, die in China oder Singapur hergestellt wurden; war das schwarze Haar einmal gebleicht und neu eingefärbt worden, konnte man es nicht mehr weiterbehandeln, da es sehr schnell seine Konsistenz veränderte und struppig wurde. Die doppelt so teuren europäischen Perücken hingegen eigneten sich aufgrund des weicheren, ver wandlungsfähigeren Haars für die unterschiedlichsten Färbungen und Tönungen. Irma dachte an die kahlköpfigen Büsten, die im Salon Eleonore herumstanden. Manchmal übte das Lehrmädchen an einer alten Perücke das Glattfönen. Trocknete das Haar vorzeitig, weil das Mädchen in der Zwischenzeit den Haarabfall auf dem Boden hatte zusammenkehren müssen, hielt es die Büste mit dem barbiepuppenhaften Gesicht einfach kurz unter den Wasserhahn, damit es wieder etwas zu tun gab. Vor zweihundert Jahren hatte man das Perückenhaar noch auf Buchsbaumkräuselhölzern aufgerollt, in Brotteig eingeschlagen und anschlieÃend mehrere Stunden im Backofen gebacken â fertig war die Dauerwelle gewesen.
Das Band schien nun zu Ende; Irma wollte die Stop-Taste drücken, als sie plötzlich Friedrichs Stimme vernahm. Sie bewegte sich im Schreibtischsessel, drehte sich beinahe um die eigene Achse.
«Hoffentlich hörst du diese Nachricht», sagte Friedrich. Er sprach leise. Irma griff nach dem Diktaphon, spulte zurück. «â¦ma. Hoffentlich hörst du diese Nachricht.» Sie spulte weiter zurück. «â¦schuldige, daà ich dich überfalle, liebe Irma.Hoffentlich hörst du diese Nachricht. Ich gehâ morgen nachmittag ins Stadionbad, aber am Abend hättâ ich â», er machte eine kurze Pause, «ich hätte dich gerne wiedergesehen.»
Irma schaute auf die Uhr. Sie griff nach dem Telephon, rief Davide an, fragte, ob er Florian vom Kindergarten abholen könne, sauste ins Schlafzimmer. Keiner der Badeanzüge gefiel ihr; der einzige, den sie mochte, war schon etwas aus der Form, so oft hatte sie ihn getragen.
Zehn Minuten später war sie auf der Prater Hauptallee, fester als sonst umklammerte sie die Lenkstange. Der Himmel über ihr sah aus wie eine blaue StraÃe, die links und rechts von Kastanienblättern eingefaÃt war. Unter den Bäumen ritten zwei junge Frauen ihre Pferde aus. Ein warmes Lüftchen wehte, bewegte die Kastanienblätter, die an manchen Stellen aussahen wie sonst im November. Die braune Farbe erinnerte Irma an das Trümmergestein ihrer Wüstenbilder. Erst jetzt bemerkte sie, daà sie nichts getrunken hatte. Sie träumte von einem gekühlten Mineralwasser, von Eiswürfeln, die langsam schmolzen und dabei immer runder wurden. Einen Augenblick dachte sie daran umzukehren; Friedrich war vielleicht in Begleitung, oder er empfand ihr Auftauchen als unpassend und aufdringlich. Dann trat sie wieder mit voller Kraft in die Pedale. Ein Kleinkind kam ihr auf seinem Dreirad entgegen, es fuhr quer über die Allee, versuchte ständig den Kurs zu korrigieren, die Mutter rannte hinterher und schrie.
Mit diesem Kortisonmondgesicht kann ich Friedrich doch gar nicht gefallen, dachte Irma. Die Narben fielen ihr ein, die der Badeanzug verdeckte, der von der Dialyse zerstörte Unterarm. Daà dieser Sterbensrest einer Unbekannten soviel Lebensgier hergab, machte ihr angst. Wenn sie nur wüÃte, wer die war, welche jetzt ihr Leben mitgestaltete. Heute morgen war in den Nachrichten von einem DDR-Schriftsteller die Redegewesen, dessen Stasiakten nun geöffnet wurden. Irma war die Idee gekommen, daà sie vielleicht mit der Spenderniere einer Ostdeutschen lebte. Wenn sich herausfinden lieÃe, wer sie war, könnte sie sich das Archivmaterial heraussuchen lassen. Vielleicht gäbe es Mitschnitte von Telephonaten, existierten protokollierte Gespräche, Alltagsaufzeichnungen. Bei dem Gedanken, daà sie auf diese Weise zu einem Detailwissen gelangte, das ihr verboten war, wurde sie übermütig. Aber was würde sie dann schon wissen; auch dieses Material war bereits interpretiert und manipuliert von den Leuten, die es erstellt hatten, und sein Wahrheitsgehalt fragwürdig.
Vor den Kassenschaltern waren kaum Leute; gegen Ende des Sommers wurden die Menschen bademüde, so hatte man bei schönstem Wetter das Fünfzigmeterbecken fast für sich
Weitere Kostenlose Bücher