Über Nacht - Roman
Körpertemperatur gehalten, um ihm wenig später Herz, Leber, Bauchspeicheldrüse und Nieren zu entnehmen.
Die Kutscher standen in einer Gruppe zusammen undrauchten; Irma beschleunigte ihre Schritte, um nicht wieder als Touristin angesprochen zu werden. In fremden Städten hastete sie manchmal durch die StraÃen, damit keiner mutmaÃte, sie wäre nicht von hier. Als hätte sie einen Termin einzuhalten. Aus diesem Grund war sie schon in dunklen, menschenleeren NebenstraÃen gelandet. Einmal hatte sie sich in Rom in ein heruntergekommenes Viertel verirrt, in dem sie auf aggressive Jugendliche getroffen war. Immer wieder wurde sie zum Opfer ihrer Vorstellungen, malte an ihren eigenen Unglücksbildern, die in den nächtlichen Träumen zurückkehrten. Auch wenn sich diese vorgestellten Schreckensszenarien nicht verwirklichten, hingen sie doch in ihrer Gedächtnisgalerie: Bilder, in denen sie bedrängt wurde, ausgeraubt, vergewaltigt. Wenn sie Richard davon erzählte, schüttelte er den Kopf.
Am Ende der StraÃe blieb Irma vor einer Auslage stehen; sie hatte Seitenstechen wie als Kind, wenn sie auf den sonntäglichen Wanderungen hinter den Eltern hergelaufen war.
Im Eingang zum Geschäft stand ein Ständer mit Sonnenbrillen. Sie setzte eine schwarze Brille auf, betrachtete sich in dem viel zu kleinen Spiegel, der zwischen den Halterungen angebracht war. Die anderen Brillen, so schien es ihr, schauten zurück. Irma sah nur noch die Augen hinter den getönten Gläsern und die Menschen hinter diesen Augen, die soviel Leben vor sich hatten, soviel Zeit in der Sonne. Obwohl sie von dem Modell, das sie auf der Nase hatte, nicht überzeugt war, ging sie ins Geschäft und kaufte es.
Im Kaffeehaus fiel Irma rechtzeitig ein, daà sie das letzte Geld ausgegeben hatte; sie fragte den Ober nach dem Paket, das Zeder für sie hinterlassen hatte, prüfte, ob sich in dem luftgepolsterten Kuvert tatsächlich das Diktaphon befand, war ein wenig enttäuscht, daà es keinerlei Nachrichten enthielt, weder von Alois noch von Friedrich Zeder, und machte sich auf den Weg in die Leopoldstadt.
Zu Hause setzte sie sich an den Schreibtisch und transkribierte das Interview. Die Arbeit langweilte sie. Das meiste war Irma bereits im Zuge der Vorbereitungen aus Büchern bekannt. Wenn da die Photos nicht wären, würde sie auf die realen Begegnungen verzichten. Auf der Basis des Recherchematerials lieÃen sich die meisten Interviews leicht erfinden. Das wäre eine Möglichkeit, dachte Irma und blickte aus dem Fenster. Sie könnte beispielsweise vorgeben, den Waldviertler Bandelkrämer kurz vor seinem Tod getroffen zu haben. Das ganze Projekt war viel zu unwichtig, als daà jemand Nachforschungen anstellen könnte. Wen interessierten untergegangene Berufe; höchstens die, dessen Tätigkeiten selbst dem Untergang geweiht waren. War der Handwerker nicht mehr am Leben, bestand auch nicht die Gefahr, daà ihn jemand aus Nostalgie zu kontaktieren versuchte.
Eine Weile beobachtete Irma das Wiegen der Platanenzweige, dann drückte sie wieder auf die Play-Taste und hörte ihrer eigenen Stimme zu. Immer noch war sie verblüfft, wie anders die Stimme aus den kleinen Lautsprechern klang, um so vieles dunkler als aus sich selbst heraus, während Zeders Stimme unverändert schien. «Den fertigen Satz habe ich mit einem starken Bindfaden umwickelt, damit ja keine Type herausfallen konnte, und dann auf das Setzbrett gehoben.» Lieber würde Irma sich auf ein paar Vorlieben und Neigungen Zeders konzentrieren, sich auf ihre imaginäre Gedächtniskunst verlassen, als die beruflichen Fertigkeiten zu beschreiben. Aber der Projektleiter der Arbeiterkammer hatte sie mehrfach gebeten, sich mehr mit dem Handwerklichen auseinanderzusetzen. So konnte sie nur da und dort ein paar zerstreute Erinnerungssplitter einfügen. Alle verbeiÃen sich in diese Normen von Einheit und Kontinuum, in diese pseudohafte Lückenlosigkeit, dachte Irma. Sie war gezwungen, die einzelnen Menschen mit ihren Berufen chronologisch zu präsentieren.
Es verging etwas Zeit, ohne daà Irma Zeders Ausführungen folgte. Sie war in Gedanken schon bei den künftigen Interviewpartnern. Als nächstes wollte sie sich mit einem pensionierten Friseur treffen, der einen Perückenmacher gekannt hatte. Irmas Friseurin in der Leopoldstadt hatte sich auf das Waschen und Frisieren von
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