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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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öfter von Piraten, Räubern, Feuerwehrmännern, sprach andauernd von seinem Großvater oder von Davide. Die Kindergartenbetreuerin hatte Irma nahegelegt,Kontakt mit dem Vater aufzunehmen. Es gehe sie ja nichts an, aber mit der Wahrheit könne das Kind besser umgehen als mit einem Phantom.
    Als hätte Irma das nicht schon versucht.
    In der Küche stapelte sich das Geschirr; sie ließ alles stehen, setzte sich auf die Anrichte, blätterte in der Zeitung. Davide hatte erzählt, daß die Frau seines Cousins eine Freundin habe, die im Meldeamt arbeitete. «Die Dialyse hindert dich jedenfalls nicht mehr daran, mit mir nach Rom zu fahren», hatte er hinzugefügt.
    Die Dialyse nicht, dachte Irma, aber vielleicht Friedrich. Er hatte schon zweimal angerufen, wollte mit ihr den Abend verbringen. Im Radio spielten sie Maurice Ravels
Miroirs – Oiseux tristes
.
    Irma vergaß, was sie las. Vielleicht würde sie Rino nicht mehr erkennen. Das erste Mal waren sie sich vor der Markthalle in der Via Alessandria begegnet; auf einem großen Tisch lagen Hemden und T-Shirts zu sieben Euro das Stück; sie hatten beide im Stoffberg gewühlt und dann am selben dunkelblauen Hemd gezogen. Er wollte es ihr überlassen, Irma hingegen war sich nicht sicher, ob sie es überhaupt wollte, und gab es ihm wieder zurück. Da bestand er darauf, sie auf einen Kaffee einzuladen. Aus dem Kaffee wurde ein Spaziergang in die Innenstadt, ein gemeinsames Abendessen. Tags darauf hatten sie sich in einer Pizzeria in San Lorenzo getroffen, danach war sie ihm in diese Wohnung gefolgt, an die sie all die Jahre hatte denken müssen, die Räume ersetzten nach und nach sein Gesicht, seine Gestalt.
    Wie viele sinnlose Anrufe, die im Nichts geendet hatten, dieses Knacken und Rauschen in der Leitung – Irma atmete durch, sie rutschte von der Anrichte, legte die Zeitung zusammen. Wenn sie damals gewußt hätte, daß sie von Rino schwanger würde, hätte sie des Kindes wegen ein, zwei Photos geschossen,ein paar private Dinge mitgenommen, vielleicht das dunkelblaue Hemd, das im Licht jenes römischen Mittags geschimmert hatte wie das Meer in hellen Nächten.
    Irma sah nach Florian; er hatte sich im Schlaf mehrfach gedreht, das Kissen lag halb unter seinem Bauch, ein Fuß hing aus dem Bett. Sie zog Florian vorsichtig nach oben, deckte ihn mit dem Leintuch zu, küßte seine Stirn, bevor sie ins Wohnzimmer ging. Auf dem Display war die vierte Nachricht von Friedrich eingegangen. Das anfängliche Herzklopfen hatte nachgelassen; Irma verspürte Lust, das Handy auszuschalten und den Hörer des Festnetztelephons neben den Apparat zu legen. So viel Aufmerksamkeit war sie nicht gewohnt. Ich will mir nicht die Finger verbrennen, dachte sie. Obwohl es ruhig war, schien es Irma, als hörte sie ein leises Klingeln.
    Sie zog eine Biographie aus dem Regal, las ein paar Seiten. Manche Lebensbeschreibungen erschienen ihr wie der Versuch einer Distanzüberwindung, doch die unertappten Lügen, von denen solche Bücher nur so strotzten, vermochten keine wirkliche Nähe herzustellen.
    In der linken Leistengegend stach es; deswegen strich sich Irma mehrmals mit der Hand über den kleinen Hügel, unter dem sich das Transplantat befand. Sie blickte nach dem Diktaphon, konnte es aber nirgendwo entdecken, also memorierte sie den Satz, der ihr gerade eingefallen war, so lange, bis sie Papier und Bleistift zur Hand hatte.
Wie nehme ich mich heraus aus diesem anderen Leben, das doch in mich hineingepflanzt worden ist?
Irma war es unheimlich, daß es in ihr dachte, ohne daß sie selbst entscheiden konnte, was sie nun denken wollte und was nicht.
    Sie griff wieder nach der Biographie, mochte aber diesen veredelnden Tonfall nicht. Man müßte über denselben Menschen ständig neue Biographien schreiben, dachte Irma, um irgendwann im Querschnitt aller Biographien ein wenig Wahrheitanzutreffen. Es sind ja doch die unwichtigen Details, die glaubhaft versichern können, daß sich etwas tatsächlich zugetragen hat.
    Florian schluchzte auf. Als Irma das Schlafzimmer betrat, schlief er ruhig. Eine Weile blieb sie am Fenster stehen und wartete, ob er sich nochmals rührte.
    Ich kann jetzt nicht weg
, schrieb Irma an Friedrich,
das weißt du doch.
Ich will auch gar nicht weg, dachte sie.
    das mußt du nicht, ich bin schon da,
simste Friedrich zurück.
    Irma erschrak; sie ging sofort zur

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