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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Wohnungstür, blickte durch den Spion ins Treppenhaus; erleichtert stellte sie fest, daß niemand vor der Tür stand. Dann betrat sie das Schlafzimmer, zog vorsichtig den Vorhang zur Seite, öffnete im Dunkeln das Fenster. Sie drehte sich um, fürchtete, Florian könnte aufwachen. Als er sich kurz bewegte, verharrte sie in ihrer Position, die Hand noch hinten, in der Nähe des Fenstergriffs, den Oberkörper bereits der Tür zugewandt. Greta fiel ihr jetzt ein, wie sie damals als Kinder im Schulhof Figurenwerfen gespielt hatten. Sie hatten sich erst um die eigene Achse gedreht, schnell, bis ihnen davon fast schon schwindelig geworden war, dann hatte die sogenannte Figurenwerferin die tanzenden Mädchen durch einen kräftigen Schubs aus ihrer Bahn werfen müssen. Auf ein Zeichen hin mußten sie mitten in der Bewegung erstarren. Wer sich am schönsten verrenkt hatte und sich in dieser unbequemen Stellung ruhig halten konnte, war die Siegerin und nächste Figurenwerferin gewesen.
    Irma entdeckte Friedrich auf der Holzbank hinter der Platane, er tippte in seine Handytastatur. Sekunden später erreichte Irma die nächste Nachricht:
ich muß dich sehen, bitte. ich warte vor deinem haus. f.
    Â«Ich war schon zu oft zur rechten Zeit am falschen Ort», hatte Friedrich vor einer Stunde am Telephon gesagt. Jetzt bist du zur falschen Zeit am rechten Ort, dachte Irma und schloßdas Fenster. Sie wollte nicht, daß Florian Friedrich kennenlernte. Noch nicht.
    Doch wenig später klopfte es an der Wohnungstür. Irma war in der Küche, schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein. Wieder blieb sie bewegungslos stehen, in der einen Hand die Flasche, in der anderen den Griff der Kühlschranktür. Der Deckel des Suppentopfs reflektierte das Licht der Deckenspots. Irma kniff die Augen zusammen, stellte sachte die Flasche ab, tappte zur Tür.
    Â«Irma!» Friedrichs Stimme hörte sich an, als käme sie aus dem Vorraum. Er hielt seinen Mund an den dünnen Spalt zwischen Rahmen und Wohnungstür gedrückt.
    Â«Wie bist du ins Haus reingekommen?» Zwischen Irmas und Friedrichs Gesicht war jetzt die Vorhängekette.
    Â«Ich hab’ den Hausmeister bestochen. Komm, mach auf.» Er kniete sich auf den borstigen Fußabstreifer, faltete die Hände. «Bitte!»
    Irma holte zwei Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich zu Friedrich ins Wohnzimmer. Er öffnete die Flaschen, hielt beim Einschenken das jeweilige Glas schief, damit sich nicht so viel Schaum bildete. Irma mochte die bedächtige Art, mit der er sich alltäglichen Dingen näherte. Ihr fiel der Satz des alten Zeder ein:
Das wird nichts ohne Respekt.
Die Achtung vor den anderen schien auch Gegenstände mit einzuschließen. Friedrich hatte zwei Kinderbücher ans untere Ende des Fernsehtisches geschoben, nachdem er bemerkt hatte, daß sein frischgespültes Glas einen Wasserring auf der Tischplatte hinterlassen hatte.
    Er griff nach Irmas Hand, streichelte sie. «Ich habe es nicht ausgehalten, dich nicht zu sehen,» sagte er, «ich will dich. Alles an dir.»
    Irma schwieg. Ich hab’ ein Kind, dachte sie.
    Â«Ich will auch das Kind», sagte er.
    Sie sah ihn an, erstaunt, küßte seine Fingerspitzen, war froh, daß er da war, gleichzeitig glaubte sie, einen Fehler begangen, zu schnell nachgegeben zu haben. Sie wollte endlich etwas Festes, etwas, das dauert.
Ein Leben mit mehr Bestand
, hatte Irma letzte Nacht in ihr Notizbuch geschrieben,
keine Tage, die vor einem umfallen, keine Stunden, die zittern
. Ihr war das Wort
Gleichmut
eingefallen. Mitten in der Nacht hatte sie über dessen Bedeutung nachgedacht, hatte sich gewünscht, daß sie diesen Zustand der inneren Gelassenheit erreichen, nicht immer zwischen Lust und Schmerz hin und her pendeln möge.
    Friedrich fragte Irma nach ihrer Familie aus, erzählte von seiner eigenen. «Mama hatte aus gutbürgerlichen Verhältnissen in die ärmliche Schriftsetzerbude geheiratet. Sich nach untenhin anzupassen ist nicht eben leicht. Aber sie entwickelte so etwas wie eine eigene Ästhetik.» Alles habe gestrahlt: ihre schneeweißen Schürzen, die Vorhänge, die selbstgehäkelte Decke auf dem Kanapee. «Sie brauchte keinen Zierat, keine Rüschen.» Friedrich blickte sich kurz um. «Ihr hättet euch gut verstanden.» Nachdem sie gestorben war, sei er vorübergehend zu seinem Vater gezogen, aus Angst,

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