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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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seinem Ohr. «Ich komme gleich.»
    Als sie das Zimmer wieder betrat, hatte er das Licht runtergedreht und eine Kerze angezündet. Er suchte jetzt nach einem Radiosender. Sie breitete eine Decke auf dem Boden aus, holte die Kissen vom Sofa. Dann umfing sie ihn von hinten und machte sich gleichzeitig am Lautstärkeregler zu schaffen. Daß nur Florian nicht aufwacht.
    Irma träumte, die Erde sei eine Scheibe; vor ihr läge eine Steinwüste, die sich nach und nach in eine Sandwüste verwandelte. Sie sah sich auf den Rand zulaufen; der feine Sand fiel in einer gewaltigen Staubwolke über die Kante ins Nichts hinab; rundherum blinkte grelles Licht, als träfen mehrere Sonnen auf Glas. Die Staubkörner drangen in ihre Kehle. Irma hechelte. Als sie schweißgebadet aufwachte, fiel ihr das Wort
Sanduhr
ein.

XV
    Der Regen hielt sich. Nach Monaten, in denen alle unter der Hitze gestöhnt hatten, blieben die Wolken am Himmel; sie kamen nicht, erledigten ihre Arbeit und verschwanden wieder, sondern blieben über der Stadt, und die kleinen Aufhellungen dazwischen schienen nur die Illusion nähren zu wollen, das Wetter ändere sich. In die blauen Wolkenfenster schoben sich immer wieder schwarze Ungetüme, die sich sturzflutartig über einzelne Stadtteile ergossen. Die Gullis, von Laub und Abfällen verstopft, vermochten die Wassermassen nicht mehr zu schlucken, Keller und Garagen standen unter Wasser, und der Tiber schwoll bedenklich an, so daß die Immigranten und Obdachlosen, die an seinen Ufern ihre Zelte aufgeschlagen hatten, evakuiert werden mußten.
    Obwohl Sonntag war, fuhr Vittorio nach Testaccio, um nachzusehen, ob das Wasser auch in die Lagerhalle eingedrungen war; wir wollten uns gegen Mittag in der Nähe seines Geschäfts treffen und zusammen mit seiner Mutter essen gehen. Einige Möbel standen auf nassem Untergrund, und Vittorio mußte das gemeinsame Mittagessen absagen. Da ich bereits in der Innenstadt war, kaufte ich mir eine Zeitung und begab mich ins nächste Café.
    Für einen Regentag waren wenig Leute da; ich setzte mich an einen Ecktisch gegenüber dem Eingang, legte den Schirm auf den Boden und sah mich erst um, als ich meine Jacke abgelegt hatte.
    Rino saß in der gegenüberliegenden Ecke und hatte die
Repubblica
vor sich ausgebreitet. Ich konnte nicht erkennen, welchen Teil er gerade las. Er ließ sich nicht ablenken, blickte auch nicht auf, als neue Gäste hereinkamen und die Tür offenblieb, so daß unangenehm feuchte Luft ins Café drang.
    Dann nahm er ohne erkennbaren Anlaß den Zeigefinger der linken Hand, umschloß ihn mit der zur Faust geballten Rechten und bog ihn nach hinten. Gleich darauf drückte er alle anderen Finger einzeln nach hinten, ohne den Blick von der Zeitung zu wenden. Ich dachte, als er mit den Fingern der einen Hand durch war, jetzt würde die andere drankommen, doch statt dessen spreizte er die Finger beider Hände und preßte sie gegeneinander, daß die noch nicht nach hinten gebogenen Finger alle auf einmal knacksten. Ich konnte es bis zu meinem Tisch hören. Unbeeindruckt von den Geräuschen, die er erzeugte, las er weiter. Wahrscheinlich wäre es mir zu diesem Zeitpunkt noch möglich gewesen, das Café zu verlassen, ohne von ihm entdeckt zu werden, aber die Art, wie er selbstvergessen mit seinen Händen spielte, während er in einen Artikel vertieft schien, faszinierte mich; sie stimmte mich milde. Ich bestellte einen Cappuccino und war gespannt, wie lange esdauern würde, bis er mich bemerkte. Erst als der Kellner seinen Aschenbecher wechselte, sah er auf, warf einen Blick in den Raum, blätterte die Zeitung um, wollte weiterlesen, doch dann stutzte er, sah noch einmal auf, jetzt in meine Richtung. Er erkannte mich, nickte kurz und vertiefte sich wieder ins Geschriebene.
    Ich war enttäuscht, nahm aber meinerseits die Zeitung, um mich dahinter zu verstecken. Die neuen Gäste waren zwei Männer mittleren Alters; sie saßen links von mir, so daß ich sie trotz vorgehaltener Zeitung beobachten konnte. Der ältere trug einen gepflegten Schnurrbart, wohl um seinen vorstehenden Unterkiefer zu verbergen, der jüngere hatte Ansätze zu einem Mausprofil, war aber bartlos, obwohl ihm ein wenig Kinnbehaarung nicht geschadet hätte. Ich mußte an Vittorio denken, der mir einmal erklärt hatte, daß Bärte nur dazu da seien, um unglückliche

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