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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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er würde ihr folgen. Die Eltern hätten sich nur ein einziges Mal heftig gestritten, als Alois Zeder feierlich erklärt hatte, er werde seinen toten Körper der Anatomie überantworten.
    Â«Mama», sagte Friedrich und trank in einem Zug das restliche Bier aus, «hat an die Auferstehung geglaubt.
Ich will nicht, daß du am jüngsten Tag deine Arme und Beine zusammensuchen mußt,
waren damals ihre Worte gewesen. Ich weiß bis heute nicht, ob das ernst gemeint war.»
    Irma stand auf, sah kurz nach Florian; dieses Mal hing ein Arm zu Boden. Sie hob den Schlafenden in die Mitte der Matratze, dann holte sie noch zwei Bier aus der Küche.
    Â«Ich frage mich, was Mama zur Gesichtstransplantation gesagthätte.» Friedrich nahm Irma die Flaschen ab. «Du hast sicher darüber gelesen.»
    Â«Ja, es war in allen Zeitungen. Die Empörung ist groß», sagte Irma. Sie wartete ab, wie Friedrich reagierte, aber er war damit beschäftigt, die Gläser zu füllen. Hoffentlich vermag er sich vorzustellen, wie es sich mit einem Gesicht lebt, das ein gefräßiger Tumor zerstört hat, dachte Irma, was aggressive Kampfhunde für Spuren hinterlassen können. Er hat doch mit Literatur zu tun.
    Â«Es ist noch nicht klar, ob die Frau das gespendete Gesicht behält», sagte Friedrich, «eine furchtbare Situation.»
    Erleichtert nahm Irma einen Schluck von dem frischen Bier.
    Friedrich strich mit dem Zeigefinger über ihre Oberlippe, leckte dann den Schaum von seinem Finger, lächelte. «Einmal lächeln, und schon geraten achtzig Muskeln in Bewegung – hast du das gewußt? Meinst du, man kann auch mit dreißig, vierzig Muskeln lächeln? Oder erstarrt dann alles zur Maske?»
    Irma zuckte mit den Achseln. «Die Frau wird so oder so lächeln, wenn sie das transplantierte Gesicht nicht abstößt.»
    Â«Jedenfalls wird sie mit dem neuen Gesicht dem Toten aus dem Gesicht geschnitten sein», sagte Friedrich.
    Â«Das glaub’ ich gerade nicht», sagte Irma und legte ihren Kopf an seine Schulter, «weil nämlich die Knochen und Muskeln der Frau aus dem zweiten Gesicht ein drittes Gesicht machen.»
    Friedrich wandte sich Irma zu, küßte ihre Stirn, kämmte mit den Fingern ihre Haare nach hinten. «Erstes Gesicht, zweites Gesicht, drittes Gesicht – ich jedenfalls mag dein erstes sehr. Du bist so schön.»
    Florian schrie auf. Irma erhob sich etwas zu schnell, stieß mit ihrem Knie die Bierflasche um, aber Friedrich kriegte sie im letzten Moment zu fassen. «Es ist immer so», sagte Irmaleise, «auch wenn ich fernsehe: Florian meldet sich bei der spannendsten Szene.»
    Friedrich folgte Irma bis zum Türrahmen, blickte in das Halbdunkel des Zimmers.
    Es war sofort wieder ruhig; Florian schlief weiter. Er hatte sich neuerlich im Schlaf gedreht, ein Fuß lag auf dem Kissen.
    Wahrscheinlich denkt er daran, wie es wäre, wenn wir jetzt das Zimmer für uns – weiter kam Irma nicht. Friedrich schob Irma aus dem Schlafzimmer, drückte sie gegen die Wohnzimmerwand.
    Â«Die Tür», sagte Irma leise.
    Â«Pst!» Er legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. «Sag, was du willst. Sag, was ich tun soll. Ich mache alles für dich.»
    Sie zogen einander langsam aus, aber Irma mußte die ganze Zeit an Rino denken; je mehr sie sich diese Gedanken verbot, desto hartnäckiger kehrten sie wieder. Vielleicht war Davides Einladung, nach Rom zu fahren, schuld an Rinos plötzlicher Präsenz. Während Irma Friedrichs blonden Kopf in den Händen hielt, hatte sie Rinos melierte Haare vor Augen und dessen Shampoogeruch in der Nase. Auch die Haut fühlte sich ähnlich an, die Schultern waren unbehaart, da und dort tastete sie kleine Narben von früheren Unreinheiten, die längst abgeheilt waren. Friedrich erschien ihr plötzlich wie eine blonde Neuerfindung Rinos, und das eigentlich Greifbare an ihm verwandelte sich mehr und mehr in einen Körper, den sie von früher zu kennen glaubte. Irma fürchtete, daß Friedrich dahinterkommen könnte; sie war so sehr damit beschäftigt, nicht den Namen Rino auszusprechen, daß ihr das Wort halblaut von den Lippen zu rollen drohte. «Rin – rie – du riechst so gut», hörte sich Irma sagen. Friedrich ging in die Hocke, küßte ihre Beine, ihre Scham, sah zu ihr hoch. Sie entwand sich ihm, ging selbst kurz in die Hocke, knabberte an

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