Über Nacht - Roman
behauptet hat, er sei Italiener. Er kann vielleicht in Deutschland italienisch sein, aber bei uns, mit dieser Aussprache? â Sie verstehen, was ich meine.» Rino trank das Glas in zwei Zügen leer und wollte schon die nächste Runde bestellen â ich winkte ab.
«Und warum wollten Sie nicht bleiben?» fragte er.
«Ich kann kaum Deutsch. Und ohne Zweisprachigkeitsprüfung kann man jede öffentliche Stelle vergessen. Was hätte ich tun sollen. Und dann war da noch mein neuer Stiefvater, er war Postsortierer, Mama war er nicht gut genug.»
«Ich kennâ das», sagte Rino, «wenn das nötige Kleingeld fehlt, wird das Klima schnell unerträglich.»
«Mama hält es nicht aus, allein zu sein, deswegen ist sie dem Erstbesten hinterhergezogen. Ich glaube, sie war damals eifersüchtig auf mich; sie hatte Angst, ich könnte ihr den Mann ausspannen. Auf der StraÃe haben die Leute uns für Schwestern gehalten.» Ich verschluckte mich an den Erdnüssen, Rino klopfte mir auf den Rücken. Der Indonesier brachte sofort ein Glas Wasser an den Tisch.
«Ich bin zurück nach Vicenza. Mein Vater war schon drei Jahre tot. Krebs. Eine Zeitlang habe ich bei meinem Onkel gewohnt, kam aber mit seiner Frau nicht zurecht. Sie sah mich als Eindringling. Ich war überall unerwünscht. Als meine beste Freundin nach Rom übersiedelte, habâ ich die Gelegenheit genützt und bin weg.»
Ich trank den Prosecco in kleinen Schlucken, während Rino von seiner Kindheit in Ostuni erzählte, von den Oliven- und Tomatenernten, die er gehaÃt hatte, von Onkel Lucchi, der ihn in Rom aufgenommen und sich um ihn gekümmert hatte, damit einmal etwas Besseres aus ihm würde, von seiner Mutter, die alle paar Monate unangekündigt zu Besuch gekommen war, um im Haushalt des Bruders nach dem Rechten zu sehen, von seiner groÃen Liebe für das Kino. «Ich habe immer davon geträumt, Kinosäle zu bauen», sagte Rino, «richtige Hallen. Kennen Sie das
Airone
? Es ist groÃartig, man hat das Gefühl, im Rachen eines Walfisches zu sitzen. Die Scheinwerfer sind so angeordnet, daà sie aussehen wie die Zähne, und die Zuschauer sind dann die verschluckte Beute. Leider ist esAnfang der siebziger Jahre restauriert worden, und jetzt ist es zu.»
Die beiden Männer, die neben mir gesessen hatten, standen nun auf und verlieÃen das Café. Rino blickte ihnen nach.
Ich muÃte daran denken, daà Vittorio nach Geschäftsschluà öfter in dieses Café geht; vielleicht waren er und Rino einander schon begegnet.
«Wollen wir?» Rino deutete mit dem Zeigefinger nach drauÃen.
Es hatte aufgehört zu regnen, tropfte aber noch von den Dächern. Die meisten Passanten liefen mit geöffneten Regenschirmen an uns vorbei; sie trauten dem Wetter wohl nicht, weil aus der Ferne noch immer ein leises Grollen zu hören war.
Ich sollte mich bei Vittorio melden, dachte ich, doch als ich Rino zum Abschied die Hand geben wollte, stemmte er lachend die Arme in die Hüften und sah mich mit schiefem Kopf an: «Ein Glas noch? Ein einziges?»
Wir gingen ins nahegelegene Kloster Bramante; ich war Jahre nicht mehr dort gewesen, obwohl in Vittorios Freundeskreis immer wieder über die neue Bar gesprochen worden war. Vittorios Mutter hatte unlängst die Ausstellungsräumlichkeiten erwähnt; sie habe sich dort mit einer Bekannten die Bilder De Nittis angesehen.
Ãber einen unscheinbaren, engen Korridor erreichten wir den Kreuzgang. Der Innenhof war menschenleer; aus den Boxen über den Säulen klang Opernmusik. Es war der Triumphmarsch der
Aida
, der Schlachtengesang, der auch von den Tifosi in den FuÃballstadien angestimmt wird.
«
Nabucco
wäre mir lieber», sagte Rino, «
Va, pensiero
, unsere heimliche Hymne.» Er stieg die Treppen hoch in den ersten Stock, zeigte auf den blauen Himmel. «Man muà nur warten können», sagte er und nahm mich bei der Hand, um michhinter einer Säule nahe an sich heranzuziehen. «Mira», sagte er.
Ich entwand mich ihm, ging zur nächsten Säule vor. Aus dem Museumsshop waren Stimmen zu hören, ich fürchtete, sie gehörten Bekannten, sah mich um: in der Bar erblickte ich eine langhaarige Frau um die vierzig, sie blätterte in einem Katalog, machte Notizen in ein schwarzes Heft. Der Kellner hinter ihr trocknete Sektflöten, hielt ein Glas nach dem anderen gegen
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