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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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darauf stand. Er war nicht erschrocken, nicht überrascht. «Der liegt seit Monaten in meiner Lade. Irgendein Kunde hat ihn bei mir liegenlassen, ich hab’ aber keine Ahnung, wer es war.»

XVI
    Es war kühler geworden; im Garten vor den Fenstern der Bibliothek schimmerte es schon gelb in den Bäumen. Irma hatte Teile des Interviews mit Alois Zeder in ihren Text eingearbeitet; müde vom Formulieren, suchte sie nach neuem Material. Vor ihr saß ein Student mit dichtem, schwarzen Haar; er trug es kurz. Der großzügige Halsausschnitt des T-Shirts erlaubte einen Blick auf den Ansatz des Rückens. Da und dort sprossen vereinzelte Härchen, als wären sie vom Kopf auf die Schulter gefallen und wüchsen dort weiter.
    Eine Weile vermochte sich Irma auf das Buch zu konzentrieren – die meisten Perücken, las sie, würden aus indischem Echthaar produziert, weil sich gläubige Hindus mehrmals im Leben den Kopf kahlrasierten –, dann dachte sie wieder an Friedrich. Er hatte noch in der Nacht die Wohnung verlassen, weil Irma es so wollte. Der Morgen gehörte Florian, da kam er zu ihr ins Bett und schmiegte sich an sie, spielte mit ihren Ohren, hielt sich an ihrem Hals fest.
    Das Tippen der Frau in der hinteren Reihe hörte sich an wie das Fallen dicker Regentropfen vor einem heftigen Gewitter. Draußen war es hell, nichts deutete auf einen Wetterwechsel.
    Wenn Hindus ihre Haare rasierten, las Irma weiter, handelte es sich um einen religiösen Akt, aus diesem Grunde hätten israelische Rabbiner den Frauen verboten, indische Perücken zu tragen. Für die finanziell schwächeren, kinderreichen Jüdinnen in Bnei Brak und Mea Schearim war das halachische Urteil zunächst ein Problem gewesen; die billigen Kunsthaarperücken waren unangenehm zu tragen, europäischePerücken unerschwinglich. Deswegen hatten die Perückenmacher schließlich auf chinesisches Haar zurückgreifen müssen.
    Der Student kratzte sich am Nacken, auf der Haut waren rote Streifen zu sehen. In der Pause war er neben dem Kaffeeautomaten gesessen und hatte eine Wurstsemmel gegessen, die in einer Papierserviette eingewickelt gewesen war. Irma hatte ein paar Seiten kopiert und ihm dabei zugesehen, wie er einzelne Brösel von der Hose gewischt hatte. Alles an ihm schien aufgeräumt, aber nicht von ihm selbst in Ordnung gebracht, sondern von einer Freundin oder Mutter. Er streckte kurz die Arme aus, dann beugte er sich wieder über sein Buch. Irma saß so nahe hinter ihm, daß sie sogar die blasseren Leberflecken zählen konnte. Was er wohl für Vorlieben haben mochte. Rino hatte es geliebt, wenn sie ihn mit ihren damals noch langen Fingernägeln am Rücken gekratzt hatte, und Friedrich hatte sie gebeten, sie möge sich auf sein Gesicht setzen. «Deck mich zu, deck mich zu.» Schon vor dem Frühstück war die erste Nachricht auf dem Handy eingegangen:
hat es dir gefallen? magst du mich? irma, irma, irma. Friedrich, Friedrich
, hatte Irma zurückgeschrieben. Der ironische Ton dieser ein fachen Wiederholung war ihm verborgen geblieben, oder er hatte bewußt nicht darauf reagiert. Er war nicht zu bremsen.
ich sehne mich nach deinen kleinen zehen
, hatte er geschrieben.
    Sie versuchte sich wieder auf das Buch zu konzentrieren, überblätterte mehrere Kapitel, in denen auf der Grundlage der
Encyclopédie perruquière
die unterschiedlichsten Perückenmodelle beschrieben waren. Noch vor hundert Jahren knüpfte man Perücken aus dem Haar von Gefängnisinsassen oder von Menschen aus Kriegsgegenden. Irma dachte an die hingerichteten chinesischen Gefangenen, denen Organe entnommen worden waren. Beides empörte sie, hier wurdenLebende geschändet, dort Menschen willentlich getötet. Solche Verbrechen nutzten wiederum die Medien, um gegen die Transplantationsmedizin zu argumentieren. Die Hirntod-Debatte zwang einen zur moralischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben, dagegen verwehrten sich die meisten. Sie rächten sich dafür, daß man sie auf ihre Vergänglichkeit ansprach. Was würde Greta machen, wenn ihre eigenen Nieren versagten und sich keiner in der näheren Verwandtschaft als Spender anböte? Was, wenn sie ein Kind mit einem Leberschaden zur Welt brächte? Zusehen, wie es stirbt? Oder vielleicht doch erlauben, daß aus der Bauchhöhle eines Toten ein hellbrauner Batzen Fleisch herausgehoben wird?
    In Österreich

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