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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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galt die Widerspruchslösung; alle waren Spender, nur wer Widerspruch anmeldete, sich schriftlich dagegen verwahrte, dem wurden keine Organe entnommen. «Man sollte die Verweigerer an die letzte Listenstelle setzen», hatte Marianne gesagt, «im Bedarfsfalle würde diesen Menschen endlich klar: Leid ist kein Wert, es zerstört nur Werte.»
    Die Frau hinter Irma hatte aufgehört, in den Laptop zu tippen, der Bibliothekar war nach draußen gegangen.
    Die Jahre der Qual sind vorbei, dachte Irma, man hat mir eine Verschnaufpause gegönnt. Sie konnte es noch immer nicht glauben, wieviel Zeit ihr plötzlich zur Verfügung stand; es entfielen nicht nur die zwölf Stunden Dialyse pro Woche, auch die Müdigkeit vor und nach der Blutwäsche, die sie sehr viel Zeit gekostet hatte, war weniger geworden.
    Wer einmal zugrunde gegangen ist, wer den dunklen Boden berührt hat, dem leuchtet selbst das dumpfeste Grau
, kritzelte Irma auf den Notizblock. Links davon stand mit dem Bleistift notiert:
Binet, Leibfriseur Ludwigs XVI., Erfinder der Allongeperücke
.
    Die Kassierin im Supermarkt, erinnerte sich Irma, hatte bis vor wenigen Wochen eine billige schwarze Perücke getragen,deren Stirnfransen den unnatürlichen Haaransatz, den sie verdecken sollten, erst recht verrieten. Die Frau war immer dünner geworden, so daß Irma Angst gehabt hatte, die künstlichen Haare könnten, wenn sich die Kassierin über das Band beugte, um zu sehen, ob der Einkaufswagen tatsächlich leer war, verrutschen oder gar in den Wagen fallen. Erst waren nur die Haare ersetzt worden, dann – Irma war von der Operation nach Hause entlassen worden und zum ersten Mal einkaufen gegangen – hatte sie eine andere Frau an der Kasse gesehen. Vor wenigen Wochen noch hatte Irma den Supermarkt nur betreten, wenn kaum Leute da waren; sie hatte Menschenansammlungen vermieden, war nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren und Veranstaltungen ferngeblieben, da sie sich vor bakteriellen Infekten und Viren schützen sollte; inzwischen versuchte sie ein normales Leben zu führen. Hustete oder nieste wer in ihrer Nähe, war ihr noch immer unbehaglich. Sie wechselte den U-Bahn-Waggon, wenn sich jemand mit einer wunden Nase neben sie stellte, oder sie hielt im Kaffeehaus nach einem anderen Tisch Ausschau, wenn sie bemerkte, daß die Person neben ihr erkältet war. Davide hatte Irmas Immunabwehr vorsorglich mit dem homöopathischen Mittel Echinacea stärken wollen, dies ausgerechnet nach der Transplantation, wo Irma mit teuren Medikamenten die körpereigene Abwehr niedrig halten mußte, damit sie keine Antikörper gegen das neue Organ entwickelte. Von medizinischen Dingen verstand Davide nichts, tat aber alles, um Irma das Leben zu erleichtern. Er hatte sich sogar einen Mund- und Nasenschutz besorgt, als sie von der Operation nach Hause gekommen war. Nur Greta hatte sich nie mehr gemeldet. Keine Glückwünsche, kein Anruf.
    Â«Kann man mit einem Transplantat überhaupt noch sein eigener Körper sein», hatte Greta damals gefragt.
    Und all die Prothesen, Implantate, Toupets? All die Zähne,die Hüftgelenke, Hautteile? Irma starrte den Hinterkopf des Studenten an. Der Mann räusperte sich, drehte sich halb nach Irma um.
    Der Körper sei längst ein Investitionsobjekt, eine Gestaltungsmöglichkeit – dagegen hatte Greta nichts einzuwenden, wohl aber gegen das Verpflanzen von Organen.
    Irma blickte auf ihre Hände, sie zitterten leicht, fühlten sich feucht an. Sie krümmte den Rücken und bewegte ein paar Mal ihre Schulterblätter. War es Wut, die sich in ihr ausbreitete? Es muß doch herauszukriegen sein, es muß doch – ruckartig stand Irma auf, sah dem Studenten ins Gesicht, der sich nach ihr umgedreht hatte. «Entschuldigung», sagte sie leise, stapelte die Bücher und das Notizheft aufeinander, ging damit raus zum Schalter. Der Bibliothekar saß vor dem Bildschirm, er bemerkte Irma erst nach einer Weile. Sie hatte gleich mehrere Bestellscheine ausgefüllt, schob sie ihm hin.
    Â«Alle?» Der Bibliothekar hielt die Zettel gebündelt in der Hand, zählte sie durch wie ein Bankbeamter die Geldscheine.
    Â«Bitte!»
    Er blickte nach rechts und links, als vergewisserte er sich, daß keine weiteren Bestellungen anstanden. «Ich werd’ sehen, was sich machen läßt.» Dann verschwand er.
    Und Irma mußte sich setzen.

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