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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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habe ersteigern können. Sitz- und Rückenschale seien aus einem Holz; man erkenne die Ähnlichkeiten mit dem Modell Nr. 9 der Gebrüder Thonet. Vittorio machte mir nicht den geringsten Vorwurf, daß ich sein Vertrauen mißbraucht hatte.
    Ich betrachtete ihn von der Seite; es beunruhigte mich, daß er seit Monaten nur von seinen Ankäufen erzählte, nie von Möbelstücken, die er aus den Lagerbeständen losgeworden war. Seine ursprüngliche Geschäftstüchtigkeit hatte sich in Sammelleidenschaft verwandelt; änderte er nicht bald seine Strategie, würde er sich ruinieren. Als Mauro ihn unlängst auf die Neueröffnung eines Designerladens aufmerksam gemacht hatte, war Vittorio nicht im geringsten irritiert gewesen. «Ich halte es mit Caligula», hatte er geantwortet, «selbst wenn siemich umbringen, werde ich bis zum Schluß
Ich lebe noch!
rufen.»
    Vittorios Mutter ordnete mit ein paar schnellen Handgriffen die getrockneten Rohrkolben und setzte sich wieder zu uns an den Tisch. Vittorio rückte zur Seite, um ihr Platz zu machen. Ich sah auf sein nach oben gerutschtes Hosenbein. Er schenkte Wasser nach, reichte das Glas seiner Mutter. Etwas stimmte nicht. Als ich nach meiner Tasche griff, die ich auf den Boden gestellt hatte, fiel mir auf, daß er sich die Beine rasiert hatte.
    Â«Stellt euch vor», sagte Vittorios Mutter, «ich habe heute im Giolitti einen Caffè macchiato getrunken; plötzlich höre ich ein Kind lachen, aber weit und breit ist kein Kind zu sehen.» Sie stockte, merkte, daß die Geschichte nicht paßte, nicht in diesem Moment. Obwohl sie Vittorio mit Blicken bedachte, die sie um mehr Zurückhaltung baten, redete sie weiter; nur ihre Hände gestikulierten nicht wie sonst, verbargen sich in den Taschen ihres Hauskleides.
    Â«Da wird dieses Lachen auch noch lauter, direkt neben mir. Ich hab’ Angst. Ich meine, das ist doch nicht normal, eine Stimme zu hören, die niemandem gehört.» Das Hauskleid war schon etwas aus der Form, so daß manche Knöpfe immer wieder aus den Knopflöchern rutschten. Vittorios Mutter hatte die Angewohnheit, ihren Redefluß an unerwarteten Stellen zu unterbrechen; dabei zuckten ihre Mundwinkel, so daß man glauben konnte, sie werde synchronisiert.
    Â«Das ist besorgniserregend», sagte Vittorio.
    Â«Siehst du», sie fing an zu lachen, «das habe ich mir auch gedacht. Aber dann», sie schüttelte den Kopf, «hört es auf, mittendrin, genau in dem Moment, als der Mann neben mir sein Handy aus dem Sakko zieht. Ich sag’ euch, das ist erst der Anfang. Es werden noch Löwen brüllen und Elefanten trompeten, wo gar keine sind – ein einziger Horror wird das. Undwenn uns dann tatsächlich ein solches Vieh angreift, werden wir glauben, daß es aus dem Handy kommt.»
    Â«Also vor Löwen und Elefanten bist du hier noch sicher», sagte Vittorio.
    Â«Warst du mal im Zoo in letzter Zeit? Eine Schande ist das.» Sie erzählte von den veralteten Gehegen, von den Leuten, die Colabüchsen und Nylonsäcke in die Käfige werfen, von verrosteten Gittern und morschen Brettern.
    Mir fiel Martas Bemerkung ein, sie habe unser Auto gegenüber der Galleria d’ Arte Moderna gesehen; das Museum ist nicht weit vom Zoologischen Garten entfernt.
    Vittorio hörte nur mit halbem Ohr zu.
    So leicht entkommst du mir nicht, dachte ich bei mir. Der Schlüssel gehört einem Kunden, aber wie kam unser Auto in diese Gegend?
    Er schaute schon eine Weile in Richtung Familienphotos, die sich auf der Kommode neben dem Fernseher befanden.
    Auf dem Hochzeitsphoto hat der Vater einen bemüht fröhlichen Ausdruck im Gesicht, die Mutter blickt mißmutig. Der Brautstrauß verdeckt ihren Bauch. Eine Muß-Ehe.
    Und wir führten längst eine Soll-Ehe. Die Fortsetzung der Kann-Ehe.
    Vittorio sah müde aus; ich stellte ihn mir alt vor, mit ausgemergelten Gliedmaßen, eingeschrumpften Hoden, abgemagert, buckelig. Ich faßte nach seiner Hand, drückte sie.
    Â«Du willst gehen?» sagte er, und zu seiner Mutter gewandt: «Mira hat Frühdienst.»
    Er log, aber es war mir egal, daß er meine Arbeit vorschob, um von hier wegzukommen.
    Wir standen alle gleichzeitig auf, behinderten einander mit den Stühlen, beim Abräumen des Tisches.
    Â«Ich mach’ das schon,» sagte Vittorios Mutter. Sie begleitete uns zur Tür, ging aber vorher noch

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