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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Sie spürte eine starke Beklemmung, die sich in ihr festzusaugen schien, eine schmerzhafte Höhlung oberhalb des Nabels. Zu Hause hätte sie sich jetzt auf dem Bett eingerollt, hier aber lehnte sie sich zurück und schloß die Augen, als ruhte sie sich aus. Kleine orangefarbene Blitze schossen durch die Lider; sie war sich nicht sicher, ob diese Impulse von draußen kamen, oder ob sie die grellen Leuchtpunkte selbst produzierte. Das plötzliche Ziehen im Rücken zwang sie, ihre Sitzhaltung zu ändern. Öffnete sie die Augen und schloß sie sie wieder, verdichteten sich die Punkte zu grellen Wolken. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und rieb esheftig, bis die Haut brannte. Eine Übelkeit stieg in ihr hoch, verschwand aber wieder, als sie tief ein- und ausatmete. Warum war sie nicht schon früher darauf gekommen? Warum hatte sie nicht schon eher die Zeitungen bestellt?
    Der Student stand am Schalter und wartete darauf, die Bücher zurückgeben zu können; er sah zu Irma herüber, machte zwei Schritte auf sie zu: «Ist Ihnen nicht gut?»
    Â«Danke, es geht schon.» Wie seh’ ich aus, dachte Irma und strich sich über das Gesicht. Der junge Mann schob den linken Ärmel hoch und zeigte Irma seine Narben auf dem Unterarm.
    Â«Als Sie vorhin beim Kopierer standen, da hab’ ich gesehen, daß Sie –», er zog den Ärmel wieder runter, «daß Sie auch an der Dialyse sind.»
    Â«Ich bin transplantiert», sagte Irma.
    Â«Ach, tatsächlich. Ich auch. Ich – ich hab’ die Niere von meinem Vater bekommen. Das ist schon fünf Jahre her. Und Sie?»
    Â«Ich bin angerufen worden.»
    Er wußte nicht, wohin mit seinen Händen, drehte sich zum Schalter hin, um zu sehen, ob er jetzt besetzt war.
    Â«Man merkt es Ihnen nicht an», sagte Irma. Sie kämpfte gegen einen neuerlichen Brechreiz, spürte, wie es in ihr pulsierte.
    Â«Danke.» Der Student lächelte. «Ich hab’ schon anders ausgesehen.» Er wandte sich um, weil der Bibliothekar an seinen Platz zurückgekehrt war. «Die Zeitungen sind in zehn Minuten da», rief dieser zu Irma herüber. «Ich bring Sie Ihnen rein.»
    Irma stand auf, stützte sich an der Lehne ab. Auf Stirn und Nase waren kleine Schweißtropfen. Ich will wissen, warum ich lebe, dachte sie. Langsam ging sie Richtung Lesesaal, sie wankte leicht, bemühte sich, auf der Nahtlinie der Linoleumkaros entlangzugehen, nickte dem Studenten zu.
    Â«Alles Gute», sagte der.
    In fünf großen Archivbänden lagen die Tageszeitungen gesammelt auf dem Tisch. Irma aber zählte die Ledersessel in der Ecke des Saals, die Blätter des Gummibaums; sie entdeckte Löcher in den grünen Vorhängen, las die Gebrauchsanweisung des Feuerlöschers, der neben ihr am holzvertäfelten Wandteil zwischen den hohen Fenstern angebracht war. Wenn es raschelte, suchte sie nach dem Verursacher des Geräuschs; war es ruhig, verharrte ihr Blick auf den Fresken neben dem Ausgang. Über den Köpfen der Philosophen, Dichter und Entdecker waren deren Lebensdaten vermerkt: Sokrates 470 − 399, Platon 427 − 347, Dante 1265 − 1321, Columbus 1451 − 1506; sie rechnete sich aus, wie alt die einzelnen Männer geworden waren, prägte sich das jeweilige Geburts- und Todesjahr ein. Die Archivbände blieben geschlossen. Noch immer war Irma übel. Als sie sich vorstellte, daß die Klimaanlage frischen Sauerstoff in den Lesesaal pumpte, ging es ihr besser. Sie sah einer Frau hinterher, deren Kordsamthose bei jedem Schritt ein Wetzgeräusch erzeugte, dann öffnete sie – mit feuchten Händen – den ersten Band, blätterte vor und zurück. Sie überflog einen Artikel über die Legalisierung der Homo-Ehe in Spanien, erinnerte sich, daß Richard im Krankenhaus darüber gesprochen hatte. Nach den Niederlanden, Belgien und Kanada war Spanien weltweit das vierte Land, das die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt hatte. «Heiraten werde ich aber trotzdem nicht», hatte Richard gesagt, «mit Davide führt man so oder so eine Ehe.»
    Im Chronikteil, gleich nach einem Bericht über John Gallianos grotesk kostümierte Paradiesvögel, die vor einer Kulisse aus Autowrackteilen, Sand und einer Tonne posierten, fand Irma den ersten Toten.
Fallschirmabsturz über Neusiedler See. Ein junger Offizier, der an einem Jagdkommando-Grundkurs teilnahm,

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