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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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stürzte bei einem Übungssprung aus etwa
20
Metern Höhe ins Wasser.
Vielleicht, dachte Irma, war durch den plötzlichen Aufpralleine Arterie im Hirn gerissen und das Blut in den Hirnschädel geschossen.
    Irma stützte den Kopf in die Hände. Sie dachte an die Pupillen des Offiziers, die hatten bestimmt schon an der Unfallstelle nicht mehr auf Licht reagiert.
Er war auf der Stelle tot.
Wie oft hatte sie diesen Satz gelesen.
    Auf der Stelle lebendig,
schrieb sie in ihr Notizheft. Ihre Schrift sah aus, als habe sie die Wörter im Zug oder im Auto geschrieben. In der Zeitung war kein Photo abgedruckt, der Tote hatte keinen Namen, nicht einmal Initialen. Immer wieder sah Irma den Offizier ins Wasser fallen.
Aus heiterem Himmel
. Wer hatte ihn aus dem See gezogen? Wer seinen Tod festgestellt? War der Notarzt dagewesen? Hatte er die Binde- und Hornhaut des jungen Mannes mit einem Stück Papier, vielleicht mit einer Fahrkarte, die er zufällig in seiner Hosentasche gefunden hatte, berührt, um zu sehen, ob die Augen reagierten? Hatte er die Lider des Mannes hochgezogen und Eiswasser ins linke Ohr injiziert?
    Irmas orangefarbenen Lichtpunkte kehrten zurück, sie tanzten eine Weile, verschwanden dann in dunkelgrauen Löchern.
    Drei irakische Migranten, erfuhr sie auf Seite acht, hatten sich in Patras im Lastwagen einer Tiroler Speditionsfirma versteckt; bei Temperaturen von bis zu 50 Grad, die im Anhänger geherrscht hatten, waren alle drei verdurstet. Wo hatten sie aufgehört zu atmen? In Mittelitalien? Kurz vor dem Brenner?
    Auch die Regionalblätter berichteten an jenem Tag vom Tod des jungen Offiziers und vom Unglück der drei Migranten.
    Die Frau hinter Irma hatte wieder angefangen zu tippen. Die Buchstabentropfen fielen jetzt ohne Unterlaß.
    Einmal noch wurde Irma fündig: 79
jähriger Pensionist stirbt an den Folgen eines Sturzes aus dem elektrischen Rollstuhl.
Aber der Totewar zu alt gewesen; unwahrscheinlich, daß er für eine Multiorgan-Explantation in Frage gekommen war.
    Noch einmal ging Irma die Zeitungsjahrgänge durch; sie stieß auf einen Bericht über den Sohn eines sowjetischen Besatzungssoldaten, der nach achtundfünfzig Jahren seinen Vater gefunden hatte.

XVII
    Â«Eins von sieben römischen Kindern kommt im Fatebenefratelli-Krankenhaus auf der Tiberinsel zur Welt», sagte Vittorios Mutter. Sie sah mich dabei an und nickte. Es war nicht das erste Mal, daß sie darauf zu sprechen kam.
    Â«Mutter», sagte Vittorio.
    Ohne Sex wird man eben nicht schwanger, lag mir auf der Zunge, aber ich nahm einen Schluck Kaffee und schwieg. Martas Kinder waren alle auf der Insel geboren, weil man den Vätern den Zugang zum Kreißsaal ermöglicht hatte, als dies in anderen Krankenhäusern noch nicht erlaubt war. Sie habe sich am Tiber wie in Paris an der Seine gefühlt, hatte Marta einmal erzählt, sogar während der Wehen habe sie ihren Blick nicht vom Ponte Garibaldi und seinen Lichtern abwenden können.
    Â«Hast du dich einmal untersuchen lassen?» fragte mich Vittorios Mutter.
    Â«Bitte», Vittorio verdrehte die Augen. «Das ist unsere Sache.»
    Ich mußte an die Sant’-Agostino-Kirche denken, an die Statue der
Maria del parto
. Dort hängen Geburtsanzeigen, Dankesbriefe, hellblaue und rosarote Schleifen. Meinem letzten Geburtstagsgeschenk hatte Vittorios Mutter eine Karte beigelegt,auf der die heilige Maria mit dem etwas dicklichen Jesukind abgebildet ist.
    Die Gynäkologische Abteilung feiere das dreißigjährige Bestehen, fuhr Vittorios Mutter fort.
    Ich stand auf und ging zur Toilette. Im Vorzimmer vernahm ich Vittorios wütende Stimme, konnte aber nicht verstehen, was er sagte; dann war es eine Weile still. Als ich zurückkam, stand Vittorios Mutter am Fenster und blickte auf die Straße hinunter. «Entschuldigung», sagte sie, «ich habe nicht gewußt, daß es an Vittorio liegt.» Sie berührte mit der Hand die staubigen Rohrkolben in der Glasvase.
    Vittorio sah mich an und legte den Zeigefinger auf seinen Mund.
    Ich dachte an den Schlüssel, den ich aus der Schreibtischlade im Geschäft entwendet hatte, daran, daß er bedeutungslos war, daß wir über den Vorfall nicht mehr gesprochen hatten. Die restliche Fahrt über hatte Vittorio das Thema gewechselt und von seiner Neuerwerbung erzählt, von einem Paul-Goldman-Stuhl aus dem Jahr 1957, den er zu einem erträglichen Preis

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