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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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gleichmäßig vor Irmas Augen, während das Flugzeug in Turbulenzen geriet und die Frau neben ihr nach der Armlehne griff.
    Irma schaute aus dem Fenster, als wäre es möglich, künftige Luftlöcher wie Schlaglöcher im voraus zu erkennen. Jedes lautere Geräusch lenkte die Konzentration vom Buch ab. In den Gesichtern der Stewardessen war nichts Beunruhigendes, sie gossen lächelnd Mineralwasser und Orangensaft in die Plastikbecher. Auf dem Monitor liefen wieder Kurzfilme über stürzende Radfahrer; die Bilder erinnerten Irma daran, wie sehr das Fortkommen an menschliches Versagen geknüpft ist.
    Ihr fiel ein, daß sich die Tanks für den Treibstoff normalerweise in der Rumpfmitte und in den Flügeln befanden, daß sie auf ihrem Platz um Sekundenbruchteile schneller als die anderen Passagiere verbrennen würde. Irgendwo hatte sie gelesen, daß der Kerosinbedarf für jeden Flug neu berechnet wird, da es zu teuer wäre, das Zuviel an Sprit spazierenzufliegen. Der Treibstoff reicht, um das Ziel oder notfalls einen Ausweichflughafen anzufliegen. Was aber, wenn ein Gewitter nach dem anderen aufkäme und sich der Pilot gezwungen sähe, immer größere Schleifen zu fliegen?
    Als die Maschine abrupt an Höhe verlor, wollte sich Irma an der Lehne festhalten, griff aber nach dem Arm ihrer Nachbarin, die weit mehr Platz für sich in Anspruch nahm, als ihr eigentlich zustand. Irma entschuldigte sich in der Hoffnung, daß sich die Frau auf ihre Seite zurückziehen würde. Ich habe Marianne gar nicht gesagt, daß ich nach Rom fliege, dachte Irma. Es sind ja sowieso nur zwei Tage, beruhigte sie sich, zuwenig Zeit, um Mariannes Freund Paul aufzusuchen.
    Die Maschine hatte zur Landung angesetzt; Davide war aufgewacht, er nickte Irma von der anderen Seite des Ganges heraufmunternd zu. Als das Flugzeug auf dem Boden war, schaltete Irma sofort ihr Handy ein, schickte den Eltern eine SMS, in der sie sich nochmals dafür bedankte, daß sie sich zwei Tage um Florian kümmerten. Aber sie hatte noch nicht einmal drei Worte eingetippt, da kamen gleich mehrere SMS an. Alle von Friedrich. Er vermisse sie.
irma, meine liebste.
    Â«Ich bin noch nicht in Rom, schon will Friedrich wissen, wann ich in Schwechat lande», sagte Irma zu Davide. Sie standen im Bus, hineingepfercht, hielten sich aneinander fest.
    Â«Ich beneide dich», sagte Davide, «Richard ist froh, daß ich weg bin.»
    Wie gut Davide riecht, dachte Irma, besser als alle Männer, die ich je gekannt habe.
    Als sie auf dem Bahnsteig der Stazione Fiumicino standen und auf den Zug warteten, fiel Irmas Blick auf ein Werbeplakat.
Noi altoatesini abbiamo qualcosa di speciale. Sarà per la qualità dei nostri prodotti.
Ein etwa dreißigjähriger unrasierter Mann mit Wollmütze lächelte vor einer Bergkulisse. Während des Romanistikstudiums hatte Irma mit Südtirolern zu tun gehabt; viele hatten das Fach studiert, weil sie bereits Italienisch sprachen, weniger aus Interesse für die Kultur ihres Staates, den sie nicht als den ihren empfanden. Rino, erinnerte sich Irma, hatte anfangs geglaubt, sie sei eine
del nord
, eine jener Deutschnationalisten, deren Väter in den sechziger Jahren die Strommasten gesprengt hätten. Er war überrascht gewesen, daß sie als Österreicherin ohne besonderen Grund die italienische Sprache erlernt hatte.
    Noch am Abend wollte Davide die Freundin der Frau seines Cousins anrufen, die Rinos Adresse ausforschen sollte. Wie wird Rino reagieren, wenn er von der Existenz eines Sohnes erfährt?
    Davide und Irma fuhren bis zur Stazione Termini. Bepackt mit Sachertorten und Schokoladen, überquerten sie den Bahnhofplatzauf der Suche nach ihrem Bus, der sie nach San Lorenzo bringen sollte. Davide hatte von Wien aus ein Hotelzimmer für Irma reserviert; er selbst würde bei einem Freund wohnen.
    Irma blickte in den Himmel, stieß gegen ein Halteschild, machte einen Schritt zurück: «Was ist das?» fragte sie.
    Â«Stare», sagte Davide, «die sind überall hier in der Stadt.»
    Es war ein heißer Septembertag gewesen; gegen Mittag hatten sich die Straßen geleert. Irma schrieb stichwortartig in ihr Notizbuch:
Wie bei de Chirico: reine Räume, reine Geometrie.
Dann fielen ihr die gesichtslosen Gliederpuppen mit ihren eiförmigen, augenlosen Köpfen ein. Einen Augenblick stellte sie sich ihren eigenen Rumpf mit Schubladen vor. In

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