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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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dem nur ein Bein zu sehen war, der Rest des Mannes verschwand hinter dem grünen Samtsessel. Der Fuß stak in einem Kordpantoffel, wie sie auch Irmas Vater im Waldviertel getragen hatte, als sie noch ein Kind war.
    Â«Ich mag es nicht, wenn man mich unangekündigt besucht. Wir sind keine Toiletten.»
    Irma streckte ihm die Hand hin. «Ich hätte mich angemeldet, aber ich habe erst gestern Ihre Adresse erfahren, und ich fliege morgen früh nach Wien zurück.»
    Â«Das interessiert mich nicht.» Er nahm die Hand nicht, sondern trommelte mit den Fingerspitzen auf den hölzernen Armlehnen. «Also, was wollen Sie?»
    Â«Die Telephonnummer Ihres Neffen Rino.»
    Jetzt wandte er sich Irma zu, warf einen Blick auf ihren Körper. «Sind Sie etwa schwanger?»
    Â«Nein, ich war es.»
    Â«Vernünftig», sagte Herr Lucchi. «Er hat schon drei.»
    Irma stand neben dem kleinen Tisch, auf dem ein Medikamentenschieber, etwas Zellstoff und mehrere Zeitungen lagen; sie lehnte sich gegen die Wand, überlegte, ob sie nicht besser den Mund halten sollte. «Dann hat er jetzt ein viertes», hörte sie sich sagen. Im selben Moment tat es ihr leid.
    Lucchis Finger hörten auf zu trommeln. Er atmete schwer. In der Stille des Zimmers klang das Rasseln bedrohlich. Er muß Wasser in der Lunge haben, dachte Irma.
    Unter dem Bett sah sie einen Tropfenfänger. Plötzlich hatte Irma Angst, daß sie den Alten mit ihrer Nachricht überfordert hatte. Sie trat zu ihm hin, legte ihre Hand auf seine Schulter. «Tut mir leid, daß ich Sie überfallen habe. Florian hat angefangen zu fragen, ich hab’ nicht einmal ein Photo von Rino.» Sie trat zur Balkontür, blickte nach draußen. Es war ein weiter Hinterhof, in dem ein paar Pinien standen; auf der rechten Seite reihte sich ein Müllcontainer an den anderen.
    Herr Lucchi schwieg noch immer. Schwester Okhi kam mit einem Stapel frischer Wäsche ins Zimmer.
    Â«Können Sie nicht klopfen? Gesindel!» sagte Herr Lucchi.
    Â«Sie haben Ihre Tabletten noch nicht genommen.» Die Schwester reichte ihm den Medikamentenschieber; als er ihn nicht nahm, legte sie ihn auf seinen Schoß, räumte die Wäscheweg und ging wieder. Er wartete, bis die Tür zufiel, dann sah er Irma das erste Mal ins Gesicht. «Warum erst jetzt?»
    Â«Ich habe Rino immer wieder angerufen. Er hat nicht abgenommen. Dann hatte ich ernsthafte gesundheitliche Probleme.» Irma strich sich durch die Haare. «Ich hatte bei der Geburt von Florian ein Nierenversagen.»
    Herr Lucchi bewegte die Lippen, aber Irma hörte nichts, nur das Motorengeräusch eines Helikopters, der den Hinterhofhimmel überflog. Einzig das Wort
Charakter
war bis zu ihr durchgedrungen.
    Â«Wie geht es Ihnen jetzt?» Er setzte sich auf, seine Hände umklammerten den Medikamentenschieber.
    Â«Ich bin seit drei Monaten transplantiert.»
    Â«Und das Kind?»
    Â«Gesund», sagte Irma.
    Das Rasseln seiner Atmung wuchs sich zu einem heftigen Hustenanfall aus. Es schüttelte ihn am ganzen Körper.
    Â«Soll ich die Schwester rufen?»
    Er verneinte. Seine Augen tränten. Als er sich wieder beruhigt hatte, verlangte er nach einem Glas Wasser.
    Auf dem Hocker neben dem Waschbecken lagen mehrere Inkontinenzeinlagen und Fixierhosen, die Irma sofort wiedererkannte. Sie war nach der Operation mit einem weißen Netzhöschen aufgewacht.
    Â«Rino war vor zehn Tagen hier», sagte Herr Lucchi und nippte am Becher. Die Tränen hatten auf den trockenen Wangen zwei Streifen hinterlassen. «Er ist vor drei Jahren – oder sind es schon dreieinhalb – nach Ostuni zurückgekehrt, weil meine Schwester einen Herzinfarkt erlitten hatte. Er kommt nur mehr selten nach Rom.»
    Irma fragte nicht nach, sie nahm an, daß Lucchis Schwester Rinos Mutter war. Die Personen, die Herr Lucchi nannte, waren ihr alle fremd, fremder als die Verunglückten in der Zeitung.Florian hat drei Halbgeschwister, sagte sie sich, aber es klang wie
drei Tomaten
oder
drei Bananen
. Die Pinien draußen sahen aus wie grüne Pilze mit dünnen Stengeln. Wollte sie das alles überhaupt wissen?
    Â«Brauchen Sie Geld?» fragte Herr Lucchi plötzlich.
    Irma schüttelte den Kopf. «Nein, ich arbeite. Und mein Bruder unterstützt mich ein wenig.» Richard hat keine Kinder, wollte sie sagen, er wird nie Kinder haben, weil er mit Männern zusammen ist, aber sie

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