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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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verbiß sich die Wahrheit. Das würde der Alte nicht verstehen.
    Â«Ich brauche nur ein Photo von Rino», sagte Irma.
    Erst war es nur ein Ziehen in der Brust, dann mündeten die schnellen, unkoordinierten Zuckungen in eine unregelmäßige Schlagfrequenz des Herzens. Irma hielt sich am Sessel fest, während der Bus auf der holprigen Straße dem Zentrum zuraste. Die Leute schimpften auf den Fahrer, eine ältere Frau konnte sich in einer Kurve nicht mehr festhalten, sie fiel gegen zwei andere, jüngere Frauen, die sie auffingen, beinahe selbst das Gleichgewicht verloren hätten. Die stickige Luft tat das ihre. Irma griff nach dem Handy, wußte dann aber nicht, wen sie anrufen sollte. Wie die Menschen in den abstürzenden Flugzeugen versuchte sie noch zwei Zeilen einzutippen.
Mir ist schlecht. Mein Herz
– dann aber ließen die Schwindelgefühle nach. Draußen zogen die Paläste vorbei mit ihren kalkweißen Wappen. Fassaden und Ornamente verbargen all das Unansehnliche, das Irma aus den Hinterhöfen kannte, die bröckelnden Stukkaturen, die rußschwarzen Wände mit den Mülltonnen, kaputten Kartonschachteln, leeren Obst- und Gemüsekisten, den streunenden Katzen – sie hatte noch immer den Geruch von Urin in der Nase, sah diese geschrumpften, verformten Männerkörper vor sich, ihre totenblassen, nach innen gekehrten Gesichter. Das Licht schien zu schwimmen. Sie saß auf einem Platz, derfür Invaliden, Schwangere und Alte reserviert war, fürchtete, daß sie jemand auffordern könnte aufzustehen; der Plastiksessel war von dem sich darunter befindlichen Motor so heiß, daß die Hose klebte. Warum tue ich mir das an, dachte Irma. Lucchi hatte in wenigen Sätzen Rinos Biographie nachgezeichnet, aber jeder Satz kam ihr wie ein Versprechen vor, das er nicht einhalten konnte. Was soll ich Florian erzählen?
    Das Bild der Unbekannten fiel ihr ein, diese Frau, die ihr an zwei verschiedenen Tagen auf unterschiedlichen Photos begegnet war.
Cambia caldaia
las Irma auf dem entgegenkommenden Bus. Als sie schließlich ausstieg, knickten die Knie ein; sie griff sich an den Bauch, tastete nach der Wölbung. Eine Bettlerin verfolgte sie, zupfte sie am Ärmel, bis Irma in eine Bar flüchtete. Erst auf dem Stuhl neben der surrenden Eistruhe fühlte sie sich sicher.
    Davide und Irma waren im letzten Moment zum Flughafen gekommen; es war Davides Idee gewesen, ein Taxi zu nehmen. Vom Zentrum nach Fiumicino hatten sie eineinhalb Stunden gebraucht.
    Irma öffnete ihr Notizbuch, warf einen Blick auf die zwei Photos. Lucchi saß in seinem Lehnstuhl, dahinter war Rino zu sehen, die Arme um den Onkel geschlungen. Auf dem anderen Bild stand Rino als Vierzehnjähriger am Strand von Ostuni, ein in die Höhe geschossener, zarter Jugendlicher mit längeren Haaren und Stirnfransen.
Torre Canne
1969 hatte jemand auf die Rückseite geschrieben.
    Der Flug verlief ruhig; Davide blätterte in einer italienischen Modezeitung. Er hatte Irma über ihren Besuch im Heim ausgefragt, konnte nicht verstehen, daß sie zwar Rinos Telephonnummer hatte, ihn aber nicht sofort kontaktieren wollte. «Ich erwarte nichts», hatte Irma ihm geantwortet. «Er hat sich um die anderen drei auch nicht gekümmert.»
    Â«Wir machen nächsten Sommer Urlaub in Apulien», war Davides Idee gewesen, «dann kannst du ihn zur Rede stellen.»
    Eine helle Frauenstimme bat, die Tische hochzuklappen, die Sitze geradezustellen. Irma erschrak. «Ich möchte nicht wissen, wie viele Landeanflüge im letzten Moment abgedreht werden, weil ein paar Vögel oder ein Sportflieger dazwischenkommen», sagte sie zu Davide. «Stell dir vor, plötzlich verschmelzen zwei Punkte auf dem Radarschirm, der Pilot fürchtet, daß die Flieger ineinandergeraten, und dann, im letzten Moment, verfehlen sie sich um ein paar Meter.» Davide lachte.
    Â«Da gibt es nichts zu lachen. Die Flugbewegungen steigen von Jahr zu Jahr an, die Lotsen sind überarbeitet. Weniger Ruhetage bedeuteten mehr Fehler. Oder etwa nicht?»
    Â«Möglich.»
    Irma hatte irgendwo gehört, daß die Auflösung der neuen Bildschirme deutlich schlechter sei als beim alten System. Und manchmal seien die Telephonleitungen überlastet. Die Controller kämen dann nicht durch, sie würden oft erst im letzten Moment Anweisungen geben, daß da noch eine zweite Maschine auf gleicher Höhe

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