Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen
Zukunft. Doch ich erschrak. Heiraten? Ich hatte doch noch gar nicht richtig gelebt – und wies ihn ab, vertröstete ihn. Er verzieh mir das nie und wanderte nach Amerika aus. Ich hörte nie wieder von ihm.
Ich blieb mit einem schlechten Gewissen zurück.
Erinnerungen an zwei Finsterwalder Jungen
1943 waren sie acht und fünf Jahre alt. Zwei Jungen, Brüder, der ältere hieß Dieter, der jüngere Peter. Ständig hatten sie Hunger, bettelten um ein Stück Brot oder eine Kartoffel. Sie waren im Jüdischen Krankenhaus in Berlin inhaftiert. Ihr Vater war kurz nach der Geburt Peters ins KZ Buchenwald eingeliefert worden. Ihre Mutter galt als verstorben.
Beide waren in Finsterwalde geboren worden. Dort war ihr Vater aufgewachsen. Dessen Mutter, eine Schwester meines Vaters, war geschieden und konnte ihre drei Kinder nicht allein ernähren. Willy, so hieß der Vater der beiden Jungen, kam zu uns nach Finsterwalde und wuchs mit mir zusammen auf. Als er die Volksschule beendet hatte, nahm ihn Emil Galliner als Lehrling in sein Kaufhaus. Wir verließen Berlin 1926 oder 1927. Willy aber, knapp 17jährig, blieb in der Stadt, in der er sich heimisch fühlte. Er wurde aktiver Sportler und später ein Autonarr, eine Tatsache, die ihm in der Nazizeit zum Verhängnis werden sollte. Die Nazis nahmen eine simple Autostrafe zum Vorwand, ihn als sogenanntes „asoziales Element“ schon 1938 ins KZ zu sperren. In Wirklichkeit suchten sie damals kräftige junge Männer, die ihnen das KZ Buchenwald aufbauten. Seine Kinder blieben zunächst bei der nichtjüdischen Mutter, die Willy noch vor den 1935 erlassenen Nürnberger Rassegesetzen, die eine eheliche Verbindung zwischen Juden und Nichtjuden verboten, geheiratet hatte.
Seine beiden Jungen kamen Anfang der vierziger Jahre ins Jüdische Krankenhaus in Berlin, wo die Gestapo eine Dienststelle hatte, ein Gefängnis und ein Arbeitslager unterhielt. Diese waren im Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen Straße eingerichtet worden zu einer Zeit, als Berlin als „judenrein“ galt. Am 27. Februar 1943 waren alle noch in Berlin verbliebenen Juden in der sogenannten „Fabrikaktion“ [1] abgeholt und wenig später zu Tausenden „in den Osten“ deportiert worden. Im Jüdischen Krankenhaus blieben Kranke zurück, die auch dort behandelt wurden, bis man sie nach ihrer Gesundung, als transportfähig erklärt, deportieren konnte. Im Gefängnis waren hauptsächlich „Untergetauchte“ untergebracht, die sich der Deportation hatten entziehen wollen, aufgespürt worden waren und bis zur Abfahrt eines Deportationszuges dort blieben. Juden aus „Mischehen“, die durch Heirat mit einem Nichtjuden vor Deportationen geschützt waren, wurden sofort nach dem Tode des nichtjüdischen Partners ins Gefängnis des Krankenhauses gebracht, um ebenfalls bei nächster Gelegenheit „in den Osten“ deportiert zu werden. Noch in den letzten Kriegstagen des Monats März 1945 gingen von dort Züge ab. Nun allerdings nur noch in die KZs innerhalb Deutschlands. Die Vernichtungslager in Polen waren für die Deutschen nicht mehr erreichbar.
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[1] Fabrikaktion, so genannt, weil die Gestapo die letzten Juden Berlins auch von ihren Arbeitsstätten in den Fabriken, in denen sie Zwangsarbeit leisten mußten, abholten.
Die beiden Jungen waren mutterseelenallein in diesem Gefängnis, aus dem es keinen Weg nach draußen gab. Jeder, der dort Dienst tun mußte – Ärzte oder Schwestern oder anderes Hilfspersonal der Gestapo mit irgendeinem „arischen“ Vorteil –, kannte die Kinder. Sie hatten selber wenig zu essen. Aber das Mitleid für die beiden Jungen war groß, und man opferte ihnen schon mal eine Kartoffel oder ein Stück Brot. Sie hatten niemanden mehr auf dieser Welt – das war bekannt – außer ihrem Vater, der sich im KZ natürlich nicht um seine Kinder kümmern konnte. Aus Gründen, die nicht mehr geklärt werden können, hatte die Mutter die beiden Jungen Anfang der vierziger Jahre, als die Verfolgung der Juden immer stärkere Formen annahm, in die Obhut ihrer Eltern gegeben.
Berichten zufolge, die die jüdische Großmutter, also meine Tante, in Berlin erreichten, sei die Mutter eines Tages an einer Lungenentzündung gestorben. Und schließlich starben auch die Großeltern, bei denen die Jungen eine Bleibe gefunden hatten. Die Jungen galten als „Mischlinge ersten Grades“ und waren nach den Nazigesetzen nicht zur Deportation bestimmt. Das spätere Vorhaben, Mischlinge oder Juden aus Mischehen
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