Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen
kleines Problem. Monatelang war ich jeden Morgen an der U-Bahn Station Bayerischer Platz in den gleichen Zug und in das gleiche Coupé gestiegen. Das hatte auch ein junger Mann getan. Ich hatte keine Ahnung, wer er war. Wir hatten kein Wort miteinander gewechselt. Wir hatten uns bloß angesehen. Es war da offenbar eine gegenseitige Sympathie entstanden, wie unsere Blicke es deutlich machten. Ich ahnte, daß er kein Jude war. Ich gebe zu, daß ich mich vor seiner Reaktion fürchtete, wenn er an mir den „Judenstern“ entdeckte. Seine Blicke bewiesen mir an jenem Tag, daß meine Sorge unbegründet war. Doch nach jenem ersten Tag des Sterntragens habe ich ihn nie wiedergesehen. Das mag Zufall gewesen sein, vielleicht auch Angst seinerseits, Kontakt zu Juden wurde im Reich der Nazis streng geahndet.
Meine Mutter sprach ihre Überraschung aus, als ich ihr meine Bereitschaft, ja sogar meinen Wunsch mitteilte, zur Kartenstelle gehen zu wollen. Dort erhielten Juden jeden Monat ihre Lebensmittelkarten, die nichtjüdischen Bürgern ins Haus geliefert wurden. Die Rationen, die uns auf diesen Karten mit dem aufgedruckten gelben „J“ zustanden, waren wesentlich geringer als die der Nichtjuden. Man konnte früh oder spät zur Kartenstelle kommen, stets wartete dort eine lange Schlange Menschen vor dem Gebäude darauf, eingelassen zu werden. Man ließ uns warten, manchmal stundenlang. Ganz gleich, ob es regnete oder ob es schneite oder ob es brütend heiß war. Um sich die Zeit zu vertreiben, unterhielten sich die Leute, flüsternd versteht sich, um den Beamten keinen Vorwand für eine Bestrafung zu liefern.
Einmal entdeckte ich in der Masse der Menschen einen jungen Mann, der mir bekannt vorkam. Und tatsächlich, er bestätigte mir, daß wir die gleiche Schule besucht hatten. Ich weiß nur noch, daß er Erich hieß, groß gewachsen war, aber stark hinkte. Wenn jemand mit ihm sprach, beugte er sich ein wenig vor und verstärkte damit den Eindruck großer Bescheidenheit. Wenn jemand ihm seinen Platz in der Schlange wegnehmen wollte, ließ er es geschehen, wohl um Streit unbedingt zu vermeiden. Er lächelte stets freundlich und, meiner Erinnerung nach, verschwand dieses Lächeln nie von seinem Gesicht. Auch er gab seiner Freude Ausdruck über unser Treffen. Ich fühlte, daß dies keine Floskel war.
Die vielen Stunden, die man uns warten ließ, gaben uns viel Zeit für Gespräche. Sie drehten sich meist um das Schicksal ehemaliger Schulkameraden. Einige hatten in fernen Ländern Asyl gefunden. Natürlich waren wir neidisch; oft nur des Abenteuers wegen. Wir bedauerten jene, die, nur um aus Deutschland herauszukommen, nach Aleppo in Syrien geflohen waren, eine Stadt, in der man noch ohne Visum aufgenommen wurde. Sie war durch die ansteckende Aleppo-Beule bekannt geworden. Da es uns verboten war, Zeitungen zu kaufen, man uns das Radio weggenommen hatte und wir zu kulturellen Veranstaltungen nicht zugelassen waren, waren die Themen unserer Gespräche begrenzt. Bücher standen uns nicht zur Verfügung. Die meisten hätten uns auch nicht interessiert. Es war meist Literatur, die nazistische Gedanken propagierte. Andere Bücher jüdischer oder ausländischer Autoren waren in Deutschland nicht mehr zum Verkauf oder Vertrieb zugelassen.
Und doch redeten wir unentwegt und ungeniert. Ich spürte deutlich, daß den Menschen um uns herum unsere Freude aneinander nicht entging. Wir sprachen darüber, wie wir uns die Welt ohne Krieg und Terror vorstellten und was wir in dieser Welt einmal tun wollten. Ich wollte damals noch Lehrerin werden, also meinem Vater nacheifern. Er wollte Ingenieur werden, Autos bauen, die gerade dabei waren, die Straßen zu erobern. Wir taten so, als ob das Leben wie selbstverständlich noch vor uns läge. Das war natürlich mit dem Ende des Naziregimes verbunden. Abitur machen, studieren, was jüdischen Jugendlichen verboten war – das waren die Grundlagen für unsere Ziele.
„Also bis zum nächsten Monat“, so pflegten wir uns zu verabschieden und winkten einander nach. Als ich am für die Ausgabe der Lebensmittelkarten festgesetzten Tag im folgenden Monat nach ihm suchte, fand ich ihn nicht. Ich fürchtete, ihn verpaßt zu haben, und fragte Umstehende, ob sie einen jungen Mann, der stark hinkte, gesehen hätten. Er muß wohl zu den ersten gehört haben, die deportiert worden waren. Auswanderungen waren seit Oktober 1941 verboten. Fast zur gleichen Zeit hatten die Deportationen jüdischer Menschen „nach
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