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Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen

Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen

Titel: Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Deutschkron
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könnte, daß sie nicht wahr ist. Ich habe auch schon gedacht, daß sie nur ausgedacht wäre.“ Charlotte, 4. Klasse
    Ihre Eltern, die meist in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts zur Schule gingen, können ihren Kindern wenig Erklärendes dazu sagen. Sie wuchsen in einer Zeit auf, in der das Thema des Nationalsozialismus nicht oder nur selten in den Schulen gelehrt wurde. Meist verwiesen die Lehrer nur auf die Verbrechen der Nazis, ohne auf Einzelheiten einzugehen, und die oft unbegreiflich hohen Zahlen der Opfer. Ich begegne immer wieder Menschen, die in jener Zeit zur Schule gingen und die mir dies bestätigen. Natürlich gab es Ausnahmen. Eltern oder Lehrer, die auf eine genaue Information ihrer Kinder zu diesem Thema wertlegten. Zeitzeugen wurden nur in den seltensten Fällen in die Schulen eingeladen. Und die Großeltern oder die Urgroßeltern, die in der Nazizeit lebten, sind mit wenigen Ausnahmen nicht bereit, über die Behauptung, sie hätten nichts von alledem erfahren, hinauszugehen.
    Das war in der DDR nicht anders. Dort behauptete man, nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun gehabt zu haben. Man habe einen antifaschistischen Staat errichtet und sich damit von allen Übeln der Vergangenheit befreit bzw. gesäubert. Menschen, die in den Konzentrationslagern zugrunde gerichtet worden waren, wurden als Widerstandskämpfer an besonderen Gedenktagen geehrt. Schulklassen wurden regelmäßig in die auf dem Territorium der DDR gelegenen KZs geführt. Die Judenverfolgung unter dem Nationalsozialismus wurde erwähnt, spielte aber im Gedenken nur eine Nebenrolle.
    Als ich in einer Schule im Ostteil der Stadt die Pogromnacht des 9. November 1938 erwähnte und überzeugt davon war, daß die Einzelheiten dieses ersten staatlich organisierten Pogroms bekannt waren, fragte die schon ergraute Lehrerin, deren Hauptfach Geschichte war: „Da hat’s gebrannt, nicht?“
    In einer Schule in Potsdam blieben vier Schüler der Unterrichtsstunde fern, in der ich gebeten worden war, aus meinem Leben in der Nazizeit zu berichten. „Die Eltern haben ihnen untersagt, daran teilzunehmen“, erklärte mir der Lehrer nach dem Unterricht. „Sie wollen nicht, daß ihre Kinder mit diesem Thema konfrontiert werden.“ Oder Worte des Erstaunens: „Sie sehen ja gar nicht jüdisch aus!“, bekomme ich des öfteren zu hören. Auf meine Frage, wie ich denn dann auszusehen hätte, kommen die üblichen Klischees: lange oder krumme Nase, schwarze, lockige Haare, dunkle Augen.
    So wurde der Besuch in Schulen für mich zu einer Aufgabe, die ich nicht mehr missen möchte. Ich habe das Gefühl, daß mein persönlicher Bericht mehr Aussagekraft hat als die abstrakte Zahl der Opfer, so hoch sie auch war. Die zwölf Jahre, in denen die Nationalsozialisten und das schreiende Unrecht in Deutschland regierten, sind für die meisten jungen Menschen eben schon Historie, meist unverständliche Historie. Einem Menschen zuzuhören, der jene Zeit auf seiten der Opfer durchleben mußte, mag zumindest den Alltag im nationalistischen Staat mit seinen Diskriminierungen, Quälereien und Unmenschlichkeiten verständlicher machen.
    Fast atemlos hören sie zu, wenn ich ihnen erzähle, daß Juden keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen durften, es sei denn, ihr Arbeitsplatz war mehr als sieben Kilometer von der Wohnung entfernt. Aber auch dann war Juden das Sitzen in Verkehrsmitteln verboten. Der „gelbe Stern“, den Juden ab September 1941 zu tragen gezwungen waren, machte uns kenntlich. Ab zwanzig Uhr abends (im Sommer ab 21 Uhr) bis sechs Uhr morgens war es Juden verboten, das Haus zu verlassen. Für mich war der Erlaß, der den Juden den Besuch von Theatern, Kinos, Konzerten, Museen und sogar den Spaziergang im Grunewald verbot, besonders schwer zu ertragen. Die Augen der Schüler beginnen zu strahlen, wenn ich ihnen berichte, daß ich ab und zu heimlich den „Stern“ abnahm, um ins Theater zu gehen oder in den Grunewald zu fahren. Das war natürlich ein großes Risiko. Hätte mich jemand ohne den „Stern“ als Jüdin erkannt, wäre ich sofort verhaftet und deportiert worden. Ich bezog Kraft aus solchen verbotenen „Exkursionen“, die mich in eine andere Welt versetzten, weg aus der Gesellschaft der Angst, die jüdische Menschen zu jener Zeit beherrschte.
    „Ich könnte an Ihrer Stelle nicht so ,lässig‘ über diese Erlebnisse sprechen. Ich hätte Alpträume. Deshalb finde ich es gut, daß Sie immer noch nicht damit aufhören, Kinder in

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