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Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen

Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen

Titel: Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Deutschkron
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Zweifel prüfen lassen. „Wir müssen aufgeben“, meine Mutter war kreidebleich, und sie nahm die tröstenden Worte der Frau Gumz, daß sie uns trotzdem weiterhelfen würde, mit Lebensmitteln zum Beispiel, gar nicht mehr auf.
    Die erste Nacht in Gretes 1 1/2-Zimmerwohnung (Storkzeile 8) schliefen wir auf dem Fußboden des Wohnzimmers. Die Lehnen der Sessel dienten als Kopfpolster. „Ein Provisorium“, tröstete Grete. „Keine Sorge, wir bringen euch schon unter.“ Schließlich schloß sie uns jeden Abend in ihrem Papiergeschäft (Westfälische Str. 64) ein. Auf Auflegern von Couches bauten wir hinter dem Tresen unsere Schlafstätte auf. Wir löschten eiligst das Licht und tappten im Dunkeln umher, damit nicht auffiel, daß jemand zu so ungewöhnlicher Stunde im Laden war. Wir wagten uns kaum zu mucksen, registrierten jedes Geräusch und wußten, daß auch dieser Zustand nicht lange währen konnte.
    Er endete schon am folgenden Wochenende. Im Laden konnten wir natürlich nicht bleiben. Es würde auffallen, wenn wir am Sonntag wie an jedem Wochentag als erste Kunden den Laden verließen. Das Bootshaus der beiden in Schildhorn bot sich an. Sie hatten es 1933 erworben, um dort mit ihren politischen Freunden zusammenzutreffen und mit ihnen in ihrem Ruderboot auf der Havel zu fahren, ohne daß ihre politischen Gespräche belauscht werden konnten. Es war Februar, kalt und stürmisch. Das prasselnde Feuer wärmte die zwei kleinen Räume des Bootshauses. Doch auch die so entstehende Gemütlichkeit und die von Grete erzwungene Heiterkeit vertrieben die Sorgen nicht, wie es mit uns weitergehen sollte.
    Für uns hatte sich vieles verändert. Wir waren auf der Flucht, waren Obdachlose, waren Menschen ohne Recht auf Leben. Seltsam war uns zumute. Äußerlich glichen wir nun den anderen . Solange ich den Stern getragen hatte, war ich angeguckt worden, war im Blickfang der Passanten gewesen. Einige wenige hatten mir durch freundliches Augenzwinkern ihre Sympathie zu erkennen gegeben. Andere wußten offenbar um unsere Not und wagten, mir im Gewühl überfüllter Verkehrsmittel Lebensmittelmarken oder Obst in die Manteltasche zu stecken. Jene, die ihren Haß auf Juden ausdrücken wollten, schnitten uns böse Grimassen. Die Mehrheit jedoch blickte mit ausdruckslosen Augen auf uns. Sie guckten quasi durch uns hindurch.
    Ich gebe es ehrlich zu: Ohne den Stern am Mantel fühlte ich mich erleichtert. Ich war mir dieses Sterns immer bewußt gewesen. Mit meinem Gesichtsausdruck, einer Maske gleich, hatte ich den Vorübergehenden sagen wollen: „Seht her, so sieht sie aus, eine Jüdin!“ Und nun ging ich die ersten Tage ohne den Stern keineswegs ungezwungen durch die Menge. Im Gegenteil – nun guckte ich sie an, prüfend, ob sie mich wohl kannten, mich als entflohene Jüdin erkannten. Doch die Menschen gingen an mir vorüber, einfach so. Ich sah ihre Gesichter. Sie sahen besorgt aus, hart und grau. Ihr Blick war nach innen gerichtet, nicht auf mich. Der Krieg im fünften Jahr hatte niemanden unbeschädigt gelassen.
    Noch vor kurzem waren sicherlich auch Menschen, die den Stern trugen, durch diese Straßen gehastet, hatten nicht nach links, nicht nach rechts geguckt, sich nicht umgesehen, waren in der einen Stunde, die ihnen für ihre Einkäufe gewährt worden war, von Laden zu Laden gehetzt. Schnell weg von der Straße, die nur Unheil versprach. Wo waren sie nun? Nein, ich wollte es nicht wissen. Und jene, die an mir vorübergingen, gewiß auch nicht. Sie trugen an ihrem eigenen Geschick. Und ich – ich wurde ihn nicht los, diesen Stern .
    „Du bist von nun an Gertrud Dereszewski.“ Der blinde Otto Weidt hielt mir ein Arbeitsbuch hin. Er war der Besitzer einer Blindenwerkstatt, in der er dreißig jüdische Blinde beschäftigte (Rosenthaler Str. 39). Er haßte die Nazis und tat alles, um seinen jüdischen Arbeitern zu helfen. Er stand ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Er sorgte für zusätzliche Lebensmittel – die Rationen für Juden wurden immer mehr gekürzt. Er reklamierte sie bei der Gestapo, als es um ihre Deportation ging. Als die Gestapo eines Tages unerwartet alle dreißig Blinden aus der Werkstatt zur Deportation abholte, überzeugte Otto Weidt die Gestapo, daß er ohne diese Arbeiter die von der Wehrmacht bestellten Waren nicht liefern könnte. Er holte sie persönlich aus dem Sammellager wieder ab.
    Die Gertrud Dereszewski, eine Prostituierte, deren Arbeitsbuch ich nun erhielt, sei nicht gewillt, wie andere deutsche

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