Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen
„Aber wer kann denn das?“, fügte sie hinzu. Und dann kam es wie ein Befehl aus ihrem Mund: „Frau Deutschkron, Sie nehmen den Stern ab und kommen mit Inge zu uns. Wir verstecken Sie!“ Als wir tatsächlich nach längerem Nachdenken und vielen Gesprächen am 15. Januar 1943 bei der Familie Gumz untertauchten, leuchteten die Augen dieser Frau, und sie sagte sehr bewegt: „Ich bin ja so stolz, daß ich Sie dazu überreden konnte.“
Sie kamen aus Lehrerkreisen, waren Arbeiter, Professoren, Gewerkschafter, Politiker, Kleinfabrikanten, die uns wie Frau Gumz ihre Hilfe anboten. Sie hatten von Anfang an ihre Augen nicht vor dem Unrecht verschlossen, das Juden, politischen Gegnern, Gewerkschaftern, Homosexuellen, Zigeunern von den 1933 an die Macht gelangten Nationalsozialisten angetan wurde. Sie waren Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft mit stark ausgeprägtem Gefühl für Recht und Unrecht. Und so dachten sie auch nicht darüber nach, was es in diesem Staat, in dem von nun an politische Verbrecher das Sagen hatten, für Folgen für sie selber haben würde, könnte man sie als Beschützer von Juden enttarnen. Sie ertrugen es einfach nicht, untätig zusehen zu müssen, wie man Menschen ihrer Religion oder ihrer politischen Einstellung wegen verfolgte. Und schließlich ihrer Ermordung zutrieb.
Meiner Mutter war der Entschluß, uns der Deportation zu entziehen, nicht leicht gefallen. Im November 1942 waren die letzten Mitglieder unserer Familie abgewandert , wie Deportationen im Amtsdeutsch umschrieben wurden. War es rechtens, sie mit ihrem Schicksal allein zu lassen, das auch für uns bestimmt war? Meine Mutter suchte eine Antwort auf diese Frage. Sie fand sie nicht, Schuldgefühle blieben zurück. Sie verließen uns nie. Ein Leben lang.
Dazu plagte sie die Sorge, wie lange dieser ihr unwürdig erscheinende Zustand, ohne eigenes Dach über dem Kopf und mit allen Kleinigkeiten und Lebensnotwendigkeiten auf die Freunde angewiesen, dauern würde. Drei Monate?, wie ein Freund nach jedem den Nazis abträglichen Ereignis, wie der Zusammenbruch der deutschen Front in Nordafrika oder der Sturz Mussolinis, immer wieder voraussagte? Überzeugen konnte er mit dieser Meinung niemanden. Doch seine Freunde und auch wir vernahmen seine Prophezeiungen nur allzu gern. Ein bißchen Hoffnung blieb immer zurück.
Der englische Sender BBC tat ein übriges. Er versorgte jene, die es wissen wollten, mit Nachrichten in deutscher Sprache über den Stand des Krieges aus englischer Sicht. Es war bei Todesstrafe verboten, ausländische Sender abzuhören. Doch diese Sendungen wurden bald zu Ritualen des Tagesablaufs aller unserer Freunde, die man nicht versäumen durfte. Mit einer Decke über Kopf und Radio krochen sie förmlich in den Apparat hinein. Oft verzweifelten sie und fluchten, wenn der Sender gestört wurde, von denen, die nicht wollten, daß das deutsche Volk die Wahrheit über den Krieg erfahren sollte. Manch hitzige Debatte folgte diesen Nachrichten aus der freien Welt, die jeder auf seine Art interpretiert sehen wollte. Aber jede Auslegung hatte das baldige Ende des Naziregimes im Blick.
Nach der Entscheidung, das Verstecken zu wagen, waren wir damit beschäftigt, unsere Habe soweit zu reduzieren, daß sie für uns keine Last und für unsere Freunde keine Belästigung sein würde. Was wir nicht mitnehmen konnten, machte ich durch Risse und Löcher unbrauchbar. Ich hatte eine böse Freude an dieser Zerstörung. Wir vertrauten nun voll und ganz auf unsere Freunde und waren unendlich dankbar für ihren Enthusiasmus, uns vor den Nazi-Mördern bewahren zu wollen. Beunruhigende Gedanken verdrängten wir schnell. Doch einer wollte nicht weichen: Wir übernahmen kein Risiko. Unsere Bestimmung hieß Auschwitz. Doch was würde aus ihnen werden, die sich auf so gefährliche Weise mit uns verbunden hatten?
„Aber Ella, wir werden euch doch nicht im Stich lassen“, empört reagierte Grete Sommer, als wir zögernd und zaudernd vor ihrer Tür standen. Pakete mit unseren wenigen Habseligkeiten in den Händen. Wir hatten unser erstes Versteck Hals über Kopf verlassen müssen. Die Nachbarin hatte zwei Frauen bemerkt, die im Hause Gumz aus- und eingingen. Es seien Verwandte aus Pommern, hatte Frau Gumz der neugierigen Frau erklärt, die, so schien es, zufrieden abzog. Aber war sie es wirklich? Würde sie eventuelle Zweifel an unserer Identität dem Blockwart melden? Möglicherweise war ihr Ehemann Mitglied der NSDAP und würde die
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