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Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen

Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen

Titel: Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Deutschkron
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Frauen bis zum Alter von 55 Jahren zur Arbeit in einer Munitionsfabrik dienstverpflichtet zu werden, erklärte mir Otto Weidt. Deshalb verkaufte sie ihr Arbeitsbuch. Ihre Daten glichen den meinen. So wurde ich offiziell als Arbeiterin der Blindenwerkstatt bei den Behörden gemeldet. Wir alle verehrten Otto Weidt und nannten ihn Papa . Er hatte für uns diskriminierte, verachtete und verfolgte Menschen in seiner Werkstatt eine Oase der Menschlichkeit geschaffen.
    Ich war nun dank des Arbeitsbuches der Dereszewski die einzige Legale unter sieben Mitarbeitern der Blindenwerkstatt, die sich der Deportation entziehen konnten. In Vorahnung nazistischer Politik, alle Juden aus Berlin zu deportieren, hatte Weidt Verstecke für einige und ihre Familien gefunden. Den letzten fensterlosen Raum hatte er durch einen Schrank von der Werkstatt abtrennen lassen. Dort brachte er vier Personen unter. Ein gemieteter Laden, als Lagerraum für seine Werkstatt getarnt, diente drei Personen. Eine blinde Heimarbeiterin und ihre sie betreuende Schwester nahm eine Puffmutter auf. In einem der Keller des Hauses Rosenthaler Straße 39 hauste einige Zeit ein Blinder mit seiner Frau.
    Am 27. Februar 1943 wurde das Unfaßbare Wirklichkeit. Sie holten alle noch legal lebenden Juden ab – wo immer sie sie fanden. Danach war in der Blindenwerkstatt gähnende Leere. Die Blinden und die sehenden Zuarbeiter waren wie alle anderen Berliner Juden Opfer der Fabrikation geworden. Drei nichtjüdische Bürstenmacher und zwei durch ihre nichtjüdischen Frauen vor Verfolgungen geschützte Blinde saßen wie gewohnt an ihren Werkbänken. Zu ihnen gesellten sich die Versteckten, die einige Aufgaben der deportierten Kollegen zu übernehmen suchten. Die Werkstatt war schließlich Otto Weidts Existenzgrundlage und ihre einzige Überlebenschance. Doch die Angst, entdeckt zu werden, verließ sie nie. Die Gestapo suchte Keller und Verließe ab, inspiziere Abwässerkanäle. Das waren für sie nicht nur Gerüchte.
    Dann waren da noch die Bombenangriffe – bei Tag und bei Nacht, die ganze Stadtteile in Steinwüsten verwandelten. Versteckte Juden konnten in den Häusern, in denen sie Zuflucht gefunden hatten, nicht die Schutzräume aufsuchen. Luftschutzwarte kontrollierten die Ausweise an Hand von Einwohnerlisten mit der Akribie eines deutschen Beamten. So blieben Illegale meist in ihren Verstecken. Traf eine Bombe das Haus und fand man sie in einer der Wohnungen, war nicht nur ihr Schicksal besiegelt.
    Im Laufe des Jahres 1943 mehrten sich Ereignisse, die das Ende des Krieges und der Naziherrschaft nicht mehr als Utopie erscheinen ließen. Auf einer Konferenz in Casablanca beschlossen der amerikanische Präsident und der britische Premierminister die „bedingungslose Kapitulation des deutschen Reiches“. Ein Beweis, wie sicher sie sich ihrer Sache waren. Gleichzeitig befahlen sie die ersten Landungen alliierter Truppen auf Sizilien, später auch in Süditalien, die erfolgreich verliefen.
    Sondermeldungen des deutschen Oberkommandos, man habe sowjetische Truppen entscheidend zurückgeschlagen, hielten dagegen. Wir wußten nicht, woran wir glauben sollten. Die Furcht, Nazi-Deutschland könne doch noch als Sieger aus diesem Zweiten Weltkrieg hervorgehen, ließ uns nicht zur Ruhe kommen. „Keine Macht der Welt, kein Teufel aus der tiefsten Hölle kann uns den Sieg entreißen!“ Mit diesen Worten beruhigte Joseph Goebbels jene Menschen seines Volkes, die zu zweifeln begonnen hatten.
    Otto Weidt zeigte sich nun seltener in der Werkstatt. Er konnte es nicht verwinden, daß er seine dreißig Blinden nicht vor der Deportation hatte bewahren können. Mit Mühe hatte er einige nichtjüdische Blinde gefunden, die die Plätze der Deportierten einnehmen sollten. Ihre Zahl reichte nicht aus, um die Produktion auf der gewohnten Höhe zu halten. Ihm drohte der Verlust von Wehrmachtsaufträgen. Und ohne Produktion konnte er keine Lebensmittel auftreiben, die er für seine Versteckten brauchte. Er war nicht mehr der strahlende Sieger von einst, als er die Gestapo mit seinen Argumenten und Geschenken überzeugte, daß er die jüdischen Blinden zur Herstellung von Besen für die Wehrmacht benötigte.
    Einmal sah ich diesen Mann, der stets Auswege aus schwierigen Situationen gefunden hatte, ratlos. Einer seiner Illegalen lag in kritischem Zustand in seinem Versteck. Medikamente waren ohne Rezept, von einem zugelassenen Arzt unterschrieben, nicht zu haben. Er sprach schließlich ganz offen

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