Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
nachts machen, wenn alle Gäste wieder weg sind. Er wird seine Verführerstimme einschalten, »die Gläser können warten« raunen, sie sanft umdrehen und ihr schließlich, während im Wohnzimmer noch »Leaving New York« von R.E.M. ausperlt, am Becken die Hose aufknöpfen. Der erste Spülgläsersex ihrer langjährigen Beziehung.
»Weißt du was?«, sagt Tina, legt ihre Hände neben die Gläser auf den schwarzen Marmor und dreht den Kopf schräg nach hinten zu Michael. »Ich freue mich darauf, dass Judith diese Marmorplatte sieht.«
Sie kichert.
Judith ist die Freundin, die es unter allen finanziell am weitesten gebracht hat. Höchste Ebene bei einer Unternehmensberatung, als einzige Frau unter Männern. Sie könnte ein ganzes Haus mit Marmor auskleiden lassen, wenn sie wollte. Tinas andere beste Freundin, Nadine, hat in den letzten zehn Jahren statt prächtigen Gewinnen prächtige Kinder gemacht. Beide Frauen sieht Tina heute, auf ihrem Dreißigsten, das erste Mal seit Jahren wieder. Dazwischen gab’s nur Skype und Telefon auf dem Sofa, ein Weinglas in der Hand. Untereinander haben die Business-Judith und die Mutter-Nadine die ganzen Jahre gar keinen Kontakt mehr gehabt, obwohl sie früher unzertrennlich waren. Judith wohnt jetzt in Graz. Nadine in Gelsenkirchen.
Tina gibt Michael einen sanften, warmen Kuss, und seine Fantasie geht mit ihm durch. Er stellt sich vor, wie sie sich nachher beide beim Spülgläsersex in einem Glas spiegeln. Dann steigen Seifenblasen aus dem Spülwasser auf und zeigen ihn mit Tina dutzendfach bei der Kopulation. Er ist genauso stolz auf die Marmorplatte wie sie, auch wenn Judith etwas mehr Geld haben mag. Wir haben’s geschafft, denkt er sich. Wir haben ein Haus im Grünen, langstielige Weingläser und eine Arbeitsplatte aus glänzend schwarzem Marmor.
Merke ➙ Der dreißigste Geburtstag dient allen Beteiligten dazu, zu zeigen, was man sich in den letzten zehn Jahren aufgebaut hat. Oder wie sehr man doch der Alte geblieben ist.
»Mein lieber Scholli, ist das bürgerlich«, stichelt Andreas zwei Stunden später. Andreas ist Michaels alter Freund. Mit ihm hat er früher auf Demonstrationen gepanzerte Polizeifahrzeuge beworfen. »In unserer Steinzeit«, wie er gerne sagt.
Besonders gerne erinnern sie sich an das letzte Mal, bevor Michael damit aufhörte. Da machte Andreas auf dem Weg zu den Krawallen einen Umweg über den Baumarkt und kaufte kleine quadratische Granitsteine aus dem Gartencenter, mit denen man Rasenkanten legt. »Guck mal, wie gut die in der Hand liegen«, hatte er damals gesagt. »Nur 29 Cent das Stück. Dafür kann ich mich auf der Straße kaum bücken.« Er erwarb zwanzig Stück. »Mit bester Empfehlung von Hornbach!«, rief er, bevor der Wasserwerfer ihn vom Asphalt spülte.
Heute repariert Andreas alte Computer. Er trägt immer noch Rastalocken auf dem Kopf und eine Armeehose. Das Haus von Michael und Tina betritt er heute zum ersten Mal. Michael und er haben sich die letzten Jahre immer nur einmal pro Sommer auf einem Rockfestival getroffen. Da saßen sie dann zwei Tage lang nebeneinander am Wegesrand in Klappstühlen, stießen, den Blick auf die Leute, blind mit Bierdosen an und führten Dialoge wie:
»Und sonst?«
»Läuft.«
»Tina?«
»Alles gut.«
»Mareike?«
»Ist weg.«
»Oh.«
»Macht nix.«
»Na, dann.«
»Prost.«
»Prost.«
Was meint die Wissenschaft? ➙ »Untersuchungen zur geschlechtsspezifischen Sprachökonomie belegen, dass Männern rund zwanzig bis dreißig gewechselte Worte pro Jahr genügen, um das Gefühl gegenseitiger Verbundenheit zu bewahren«, sagt Prof. Siegfried Stoppelkamp vom Institut für sporadische Sprachforschung (IfsS) in Südwinden. »Frauen benötigen dazu die mindestens tausendfache Menge.«
Gegen 20:30 Uhr sind alle da und heben die Gläser auf Tina. Das plingggg klingt jetzt anders. Der Rotwein ist wohltemperiert. Die Männer stoßen mit an, warten aber aufs Bier. Judith trägt ein perfekt geschnittenes Businesskostüm. Nadine trägt einen funktionalen Pulli und eine schwarze Hose mit Stretchbund. Michael bemerkt, wie sich die Frauen beäugen, bleibt aber guter Dinge. In der Anlage läuft »Californication« von den Red Hot Chili Peppers. Als sie das alle gemeinsam das letzte Mal hörten, feierten sie nach dem Abitur eine Party am Acker von Bauer Brockmeier. Nadine und Judith waren damals stundenlang verschwunden. »Wir haben uns verlaufen«, sagten sie, als sie zurückkamen, und kicherten über die
Weitere Kostenlose Bücher