Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
schnell aus der Küche geholt, als die Wanne volllief. Am Wochenende leidet Paul nie Hunger. Unter der Woche sind Beerdigungen ganz gut. Auch hier gilt die Regel: mindestens fünfzig Gäste aufwärts. Besser mehr. Im Zweifel ist man ein alter Bekannter aus Amerika. Oder hat mit dem Verstorbenen in der B-Jugend gespielt, damals, bei Grün-Schwarz Cappenberg, wissen Sie nicht mehr? Das Trauerbüfett ist immer frisch und lecker. Nichts macht die Menschen so hungrig wie das Verscheiden eines Verwandten.
Im Wohnzimmer schaltet jemand das Geschaukel der Ramones ab und die Hölle bricht los. Paul schreckt aus dem Badewasser auf, in dem er eingedöst ist, und spritzt die dunklen Fliesen voll.
»Wir sind Maulsperre!!!«, brüllt jemand in ein Mikro. Ein Schlagzeuger zählt an, und schon stürzen und stolpern Gitarre, Bass und »Sänger« zu einem Viervierteltakt übereinander, der so holprig klingt, als müssten die Musiker beim Spielen auf einem Traktoranhänger Slalomstangen passieren.
Paul seufzt.
Dass er in seinem eigenen Teilzeithaus nie Ruhe findet …
Er schlingt sich den Bademantel um, der an einem Haken der Tür hängt, schlüpft in ein paar Sandalen neben der Zimmerpalme und stapft die Treppe hinab.
Tatsächlich: Im Wohnzimmer spielt eine Band. Sie haben ein komplettes Equipment aufgebaut, mit riesigen Verstärkern zwischen den gutbürgerlichen Möbeln. Alles zittert. Das Glas im Wohnzimmerschrank bekommt Sprünge.
»Unser Proberaum ist ein dreckiges Loch …«, grölt der Sänger, und seine Kollegen begleiten die Zeile mit einem kehligen » OHOHO! OHOHO! «
Der Sänger nimmt die Sache viel zu ernst, das sieht Paul sofort. Paul hat Menschenkenntnis. Zwanzig, dreißig mutige Gäste und Bekannte der Amateurtruppe hängen auf den Sofas oder tun so, als würden sie sich genauso enthusiastisch durch die Gegend schubsen wie bei einem Wohnzimmerkonzert der Toten Hosen, die ja tatsächlich Wohnzimmerkonzerte spielen.
»… und wir zahlen auch noch Geld dafür/die Ratten huschen durch den Gang … OHOHO! OHOHO! «
Der Gitarrist trägt ein übergroßes Holzfällerhemd und eine Brille, deren Gläser Cannabispflanzen als Motiv haben. Der Bassist spielt in einem T-Shirt mit der Aufschrift Geil & Willig . Das Schlagwerk bedient der langhaarige Gladbachfan in der quietschbunten Badehose. Kurzum: Alle sind angemessen gekleidet für den Funpunk, den sie spielen, nur der Sänger steht in schwarzer Militärhose und Gegen Nazis -T-Shirt da. Er umklammert das Mikro wie einen Kampfstab und schließt beim Singen die Augen. Nur ab und zu öffnet er sie und sieht dabei zu der Elektrofachmarktverkäuferin herüber. Er hofft, als Punkrocker die ersten Frauen rumzukriegen, aber es ist eindeutig: Selbst seine Kollegen Cannabisbrille, Geil & Willig und Quietschbuntbadehose haben bessere Chancen.
Nach dem ersten Song fiept die Gitarre im Verstärker nach und verstummt, als alle zur Treppe sehen, wo Paul im Bademantel steht.
Die Musiker schlucken und werden rot. Sogar der Schlagzeuger. Paul hatte vorhin den Eindruck, seinen Eltern könnte dieses Haus gehören, aber jetzt sieht der junge Mann in der Quietschbunthose ihn am meisten von allen so an, als habe er Angst, vorhin im Garten aus Versehen mit dem Hausherrn über Gladbachs Transferpolitik gesprochen zu haben.
Paul hebt die badewassernasse Hand und sagt: »Alles gut. Ich wohne nicht hier. Ich trage nur gern örtliche Bademäntel.«
Die Menge murmelt.
Paul macht eine Fächergeste mit dem rechten Handrücken: »Ja, los. Einfach weitermachen. Maulsperre vor!«
Der Bassist grinst und schlägt an: Dum-dum-dam-dam-dum-dum.
Das Getöse bricht wieder los.
Was soll Paul machen?
Er kann es ihnen in dem Haus, das ihm nicht gehört, schlecht verbieten.
Was sagt die Wissenschaft? ➙ »Viele der Anwesen, in denen immerfort Hauspartys stattfinden, haben keinen identifizierbaren Besitzer mehr«, erklärt Professor Leopold Lück vom Institut für lockere Liegenschaftsforschung (IflL) in Lendsiedel zu Kirchberg. Stichproben bei mehr als siebzig solcher Veranstaltungen ergaben, dass keiner der Anwesenden wusste, wem das Haus eigentlich gehört. 87 Prozent der Gäste waren außerdem nicht direkt eingeladen worden. Sie kamen im Schlepptau von Freunden oder wurden vom Licht angezogen. Die restlichen 13 Prozent gaben als Urheber der Party jeweils völlig verschiedene Menschen an. »Wir vom Institut für lockere Liegenschaftsforschung möchten an dieser Stelle die gewagte These aufstellen, dass
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