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Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)

Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)

Titel: Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Uschmann , Sylvia Witt
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der Eisklumpen aus Zellstoff im Gesicht klebt.
    »Was haben die?«, fragt Michaela die Maria, und die flüstert zurück, was man sich über diesen Mann sagt, der gerade den größten Frevel begeht, den man auf dem Kartoffelsamstag begehen kann: das Fest gar nicht zu besuchen , sondern nur kurz mit der Thermotüte unterm Arm drüberzuhuschen, um Kartoffelgerichte zum Mitnehmen zu sammeln – und dann auch noch nach den Zutaten zu fragen!
    »Das ist ein Zugezogener«, zischelt Maria.
    Mein Gott, denkt Michaela. Ein zugezogener Zutatennachfrager.
    »Man sagt sich, er lebe oben im Neubaugebiet mit einer Frau und ihrem Mann zusammen. Kann man sich so was vorstellen? Er soll aus Hamburg kommen.«
    Michaela schaut das rätselhafte Britpopgesicht an.
    »Und ist da Milch drin?«, fragt der ehemalige Hamburger.
    »Guck mal, was der schon alles gekauft hat«, wispert Maria. »Ofenkartoffel mit Kräuterquark und locker drei Meter schwarze Lakritzbänder. Das ist bestimmt nicht nur zum essen.«
    »Wozu denn dann?«, fragt Michaela.
    »Was weiß ich, es sind doch Künstler«, antwortet Maria und verdreht beim Wort »Künstler« ihre Augen.
    Der ehemalige Hamburger zeigt mit dem Daumen hinter sich zur Tür des Hirschjäger und sagt: »Ja, gut. Ich frag dann mal Ihre Mutter.«
    Merke ➙ In Westfalen gilt jeder als »zugezogen«, solange seine Familie nicht in die vierte Generation von im Dorf geborenen Kindern geht. Als Zugezogener sollte man eigentlich von 10:55 bis 18:05 Uhr auf dem Kartoffelsamstag weilen, an jedem Stand 30 Minuten mit den Betreibern plaudern und Alan Strong & The Road Show auch bei der dritten Aufführung von »Country Roads« glühweinwangenrot zujubeln. Auf gar keinen Fall sollte man nach Zutaten fragen!
    Der ehemalige Hamburger verschwindet gegenüber im Restaurant. Der wuschige Wollmützenträger, der einzig Michaela ohne Sarkasmus anschaut, hängt auf Halbmast an der Mauer der Gaststätte und kann nicht mehr. Er ist kein Zugezogener, sondern »nur« ein verwirrter Neunzehnjähriger aus der nahe gelegenen Stadt. Er ist Frittierfettfetischist. Diese Neigung irritiert ihn sehr, er hat Foren über Foren im Internet dazu durchforstet und keine Artgenossen gefunden, doch es hilft ja nichts: Legt Michaela eine Ladung frischer Reibekuchen auf die zischende Platte, erschauert er. Er erschauert und lauert, ob ein paar Tröpfchen des spritzenden Fetts auf ihrer Schürze oder gar auf ihrer Haut landen, genau zwischen den feinen Härchen. Stundenlang streunt er um die Bude, hat aber keine Ahnung, wie er das Objekt seiner Begierde ansprechen soll. Wütend über die eigene Hilflosigkeit trinkt er einen Glühwein nach dem anderen und stellt dem Tubaspieler der Kapelle, als sie das nächste Mal vorbeikommt, ein Bein. Der Mann strauchelt und zerstört das restliche Geschirr an Frau Frankenforsts Porzellanstand, das noch nicht von den sackhüpfenden Kindern pulverisiert wurde. Die Fatalistin hebt daraufhin die Hände zur Klage und fragt den Herrgott im Himmel, womit sie das jedes Jahr wieder verdient habe. Die Schützenkapelle stürzt sich geschlossen auf den Beinchensteller und malträtiert ihn und seine ihm zu Hilfe eilenden Kumpane mit gnadenlosen Marschmusiktritten. Der ehemalige Hamburger schleicht sich aus der Restauranttür an dem grausamen Geschehen vorbei, schwingt sich, ohne noch Reibekuchen zu kaufen, aufs Rad und ackert sich mit krummem Rücken die leichte Steigung Richtung Neubauhügel hinauf.
    Michaela sieht ihm nach.
    »Na ja«, sagt ihre Kollegin Maria, als der Dorfpolizist die verbeulten Wollmützenträger vom Festgelände führt, und sieht dem Britpopper nach, der gerade um die Hügelkurve verschwindet: »Wenigstens waren die den ganzen Tag auf dem Fest.«
    •Der Kartoffelsamstag
    Alkoholpegel: ★ ★ ★
    Drama: ★ ★ ★
    Erotik: ★ ★
    Spaß: ★ ★
    Was man erwartet
    Sex. Nach dem Vorglühen zieht man sich die ironisch gemeinte Wollmütze verwegen tief in die Stirn und macht sich in Sichtweite des Reibekuchenstands so gekonnt und überlegen über das ganze Geschehen lustig, dass das Reibekuchenmädchen nach Dienstschluss die Schürze ihrer Sklaverei von sich reißt und mit einem am Horizont der Freiheit verschwindet.
    Was tatsächlich passiert
    Haue. Man wird unter den Augen des Reibekuchenmädchens von der Schützenkapelle grün und blau geschlagen und danach aus dem Dorf gejagt.
    Was man tun sollte
    Dem Kartoffelsamstag die Ehre erweisen, die ihm gebührt, und sich von 11 bis 18 Uhr unablässig

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