Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
hat »Gerne wieder!« gesagt, als er sich dafür bedankte, dass sie ihn zum Bahnhof gebracht hatte. Er hatte mit »Ich freue mich auf die Ersti-Fahrt« geantwortet. Alles ganz leicht.
Früher, in der Schule, war alles ganz schwer gewesen mit den Mädchen. Er war einer der Eierköpfe, der Halbdeppen, der Ein-bisschen-Gemobbten. Kein Vollopfer, das nach der Schulzeit Berufssoldat, Hells Angel, Bestatter oder Serienmörder wird und somit wenigstens eine gewisse Konsequenz an den Tag legt, aber eben einer von den Sonderlingen, denen die Mädchen im Zweifel immer einen Basketballer vorziehen. Oder wenigstens einen, der bei einem Date nicht zwei Stunden am Stück wissenschaftlich ausbreitet, was Hermann Hesse und Quentin Tarantino seiner Meinung nach gemeinsam haben. Weil er nervös ist, aber auch, weil ihn die beiden nun mal faszinieren.
Jetzt, kaum an der Uni, ist das alles anders. Jenny mag ihn und er sie. Er sagt »Hallo, Odie!« zu ihrem Auto und dann erst mal nichts, statt lange Vorträge zu halten. Sie lächelt, weil er ihren Odie streichelt, und er lächelt, weil ihr Dasein allein ihm so viel Freude macht. Das wird ein schönes Wochenende.
Am Abend sitzt die Gemeinschaft rund um die knisternde Feuerstelle. Benny und Jenny, Erstis und Älteste. Torsten, der Flammenmann, wirft frische Scheite in das Knistern. Wolfgang zupft auf seiner Gitarre. Keine Lagerfeuerlieder zum Mitsingen – auch wenn das den Frühpädagoginnen Karin und Heike recht wäre –, sondern seltsame Kompositionen. Sie folgen einem geheimen Plan in seinem Kopf, hinter den geschlossenen Augen. Seine Hornbrille ist mit Panzertape geflickt. Der langhaarige Holger sitzt neben ihm und leckt das Blättchen einer Zigarette. Es ist ein außergewöhnlich großes Blättchen, und die Zigarette nimmt die Form einer Tüte an. Karin guckt skeptisch, lässt es aber zu. Erstis sind keine Schutzbefohlenen. Es sind junge Erwachsene, die mit nicht mehr ganz so jungen Erwachsenen ein Wochenende verbringen. Karin und Heike sind gut in der Zeit. Zehntes Semester und kurz vorm Master. Wolfgang und Holger hingegen haben den Fachschaftsrat schon betrieben, als die beiden Frauen selbst noch Erstis waren. Sie leben seit Urzeiten an der Uni. Man sagt, sie hätten sich ein vergessenes Büro im achten Stock zur Wohnung ausgebaut. Andere behaupten, sie lebten in den Katakomben tief unter dem Campus. Oder im Gewächshaus des botanischen Gartens. Sicher ist, dass sie die Uni nie mehr verlassen werden.
»Auch jemand?«, fragt Holger und hält die Tüte hoch.
Benjamin weiß nicht, was er tun soll. Er hat noch nie gekifft. Er wartet ab, was Torsten macht, aber vor allem: wie Jenny reagiert.
Sie winkt ab: »Danke, ich rauche nicht. Also auch kein Gras.«
»Ich auch nicht«, pflichtet Benjamin schnell bei.
Sie schauen sich an.
Torsten verteilt Bier. Jenny erzählt von Australien, wo sie ein Jahr als Austauschschülerin gelebt hat. Alle hören es sich an, und sie lässt den Blick über ihr Publikum schweifen, aber Benjamin spürt, dass sie es im Grunde nur ihm erzählt. Und Benjamin spürt auch: Heute Abend wird es erst mal beim Erzählen bleiben. Doch das ist vollkommen in Ordnung. Ihren Lippen beim Erzählen im Schein des Feuers zuzusehen macht ihn bereits glücklich genug.
Merke ➙ Auf einer Ersti-Fahrt braucht es wie überall im Leben nur das richtige Timing und ein wenig Geduld.
In der Küche neben dem großen Gemeinschaftsraum blubbert ein Topf mit Chili. Auf dem Sofa nebenan lässt Wolfgang seine Jazzfinger über die Saiten tanzen. Benjamin schaut in das brodelnde Rot. Der Kopf von Jenny erscheint neben ihm im Dampf.
»Mir gefällt’s, wie’s klingt, wenn die Gitarrensaiten beim Umgreifen so quietschen«, sagt Jenny. »Ich mag es auch, wenn sie es einfach auf der Platte lassen.«
Benjamin sagt: »Wie bei Nick Drake.«
Jenny schnippt mit den Fingern: »Ja, genau.«
Sie kennt Nick Drake …
»Heute Abend wird es was«, flüstert eine Stimme in Benjamins Ohr. Es ist Torsten, der sich neues Bier aus dem Kühlschrank holt. Grinsend wispert er: »Tropfsteinhöhle …«
Benjamin zischt. Solche versauten Anspielungen kann Torsten in seiner Macho-Werkstatt machen, aber doch nicht hier. Heute Nachmittag haben sie alle in der Nähe eine Tropfsteinhöhle besucht. Die junge Frau, die sie hindurchführte, sah aus wie Jessica Alba, woraufhin Torsten geflüstert hatte: »Steif steht der Stalagmit.« An der dunkelsten Stelle der Wanderung nahm Jenny kurz Benjamins Hand.
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