Uebermorgen Sonnenschein - Als mein Baby vertauscht wurde
dieses Kind Leni und niemand sonst war. Wahrscheinlich waren es einfach nur die Schmerzen, die Geburt, die OP , die Hormone, der Schlafmangel, die sich zu einem explosiven Cocktail der Angst und Unsicherheit mischten. Leni fing an zu quengeln. Anscheinend hatte sie schon wieder Hunger. Ich legte sie an, und sie trank sofort. Dabei machte sie die gleichen Schmatzgeräusche wie bei den anderen Malen. Genauso wie Eva schien Ralf das problemlose Stillen gänzlich zu überzeugen, dass dieses Baby nur unser Baby sein konnte.
Als meine Mutter etwas später ebenfalls zu Besuch kam, sprudelte es, kaum dass sie ihre Jacke ausgezogen hatte, aus mir heraus.
»Mama, ich hatte vielleicht eine Aufregung heute früh!«
»Warum das denn?«
»Ich dachte, die Schwester hat mir ein falsches Kind gebracht.«
Meine Mutter runzelte die Stirn. »So ein Quatsch! Das kann doch gar nicht sein!«, rief sie aus und betrachtete Leni in Ralfs Arm.
»Ja, eben. Und deshalb habe ich mich jetzt auch wieder beruhigt«, antwortete ich und stöhnte alles andere als beruhigt auf.
»Gib die Kleine mal her. Ich schau sie mir mal an.« Ralf reichte ihr Leni, und nach nur wenigen Sekunden Begutachtung sagte sie: »Gestern war dein Näschen aber nicht so breit.«
»Mama, hör auf!«, fuhr ich meine Mutter an – wollte ich doch mittlerweile, dass auch sie mich darin bestärkte, dass dies mein Kind war, und nicht noch Öl ins Feuer goss.
»Ihr spinnt doch alle beide«, sagte Ralf kopfschüttelnd.
»Ich sage ja nur, dass ich die Nase kleiner in Erinnerung habe. Aber auf meine Meinung könnt ihr auch nichts geben – im Gegensatz zu Ralf war ich ja gestern nur kurz da«, erklärte meine Mutter. Damit war das Thema erst einmal vom Tisch.
Am frühen Nachmittag klopfte es an unsere Zimmertür und meine Freundin Bärbel, meine frühere Querflötenlehrerin, steckte den Kopf zur Tür herein. Ich war froh, dass Ralf sich gerade mal die Beine vertrat und meine Mutter zum Auto begleitete. Sogleich winkte ich Bärbel heran. Sie besuchte jeden Tag ihre krebskranke Mutter, die auf der Nachbarstation, auf der Inneren, lag, und war sogar am Tag der Geburt von Leni kurz bei mir gewesen, um uns zu gratulieren. Gestern hatte sie dann sogar ihren Vater mitgebracht, und die beiden hatten eine Weile bei mir und Leni am Bett gesessen. Ich hatte nachher ein richtig schlechtes Gewissen gehabt, weil ich mich über den Besuch nicht richtig freuen konnte. Mir taten die beiden so leid, und mir fiel es schwer, auch nur irgendwie auf ihre sorgenvolle Situation einzugehen. Aber sie schienen bei mir und meinem Baby einfach ein wenig Leben tanken zu wollen. Fast hätte ich diese kurzen Besuche vergessen, doch jetzt freute ich mich, dass es noch jemanden gab, den ich wegen Lenis angeblicher Veränderung befragen konnte.
Bärbel war mal wieder ganz gerührt von dem Winzling in seinem Bettchen.
»Darf ich sie noch mal auf den Arm nehmen?«, fragte sie.
»Klar«, gab ich schnell zurück und war schon gespannt, ob sie bemerken würde, dass das Baby heute viel zierlicher war als gestern.
Vorsichtig nahm sie die Kleine hoch. Ihr schien nichts Ungewöhnliches aufzufallen. Ich wollte aber unbedingt auf Nummer sicher gehen und suchte nach den richtigen Worten, Bärbel von meiner Befürchtung zu erzählen. Dabei schämte ich mich, sie hatte weiß Gott genug Sorgen. Margot, ihre Mutter, war doch noch viel zu jung, um zu sterben. Sie war doch der Fels der Familie, stets gut gelaunt, und man fühlte sich bei ihr immer willkommen. Unzählige Male war ich bei den Eigners zu Besuch gewesen. Wenn es bei ihnen ein Fest gab, hatte ich extra den ganzen Tag über nichts gegessen, um am Abend richtig zuschlagen zu können. Margot war eine super Köchin. Es tat mir weh, wenn ich daran dachte, wie diese wunderbare Frau nun dahinsiechte.
Aber wie schmerzhaft musste es erst für Bärbel sein. Und dann ich mit meinem kuriosen Verdacht. Doch ich musste jede Chance nutzen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Diese Ungewissheit war nicht zu ertragen, und die Gedanken an eine Kindesverwechslung, so unwahrscheinlich sie auch war, machten mich noch wahnsinnig.
Bärbel reagierte sehr sensibel. »Rede doch mal mit den Ärzten und den Schwestern darüber. Oder schau dir die Babys von den anderen Müttern an.«
Sie war die Erste, die auf mich einging und mir einen wichtigen Ratschlag gab. Natürlich hätte ich schon selbst darauf kommen sollen, auf der Station nach einem Baby, das wie Leni aussah, zu achten.
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