Uebermorgen Sonnenschein - Als mein Baby vertauscht wurde
Ohr.
Sie nickte.
Auch Vanessas Mutter, die ihre Tochter begleitete, fiel ich um den Hals. Auch ihr liefen die Tränen nur so über das Gesicht, sie drückte mich fest an sich. Ralf und Vanessa umarmten sich ebenfalls.
Nach einer Weile ließen wir alle voneinander ab und setzten uns. Prof. von Rhein reichte uns Taschentücher. Auch er schien ziemlich ergriffen. Er wartete einen Moment, bis wir uns wieder beruhigt hatten und fing dann behutsam mit der Moderation an.
»So, da sitzen wir nun. Vanessa – das ist die Familie Klos. Was ist das jetzt so für ein Gefühl? Was denkst du jetzt?« Er sprach mit ihr wie mit einem kleinen Kind.
Ich schaute sie mir genauer an. Vanessa war eher klein und wirkte fast noch kindlich, aber sie sah hübsch aus. Sie hatte dunkle, glatte Haare und braune Augen. Klar, von wem Leni diesen dunklen Teint hatte.
»Nett«, antwortete Vanessa kurz und knapp.
»Darf ich ’du’ sagen, ist das okay?«, fragte Prof. von Rhein.
»Ja, ja«, antwortete Vanessa leise.
»Die Frau Klos hat das eben schon so schön gesagt: Ihr schafft das zusammen. Und ich habe auch gehört, dass das Wort ’Patchwork’ gefallen ist – das hört sich ja alles toll an.«
Es hätte mich nicht gewundert, wenn er uns noch seine Patenschaft für die Kinder angeboten hätte. Plötzlich klopfte es an der Tür, und eine Frau kam herein. »Möchte jemand Kaffee? Tee? Wasser?« Es war wirklich eine bizarre Situation!
Zugleich aber war bei allen eine Erleichterung zu spüren, dass endlich der erste Schritt getan worden war. Prof. von Rhein hielt den Small Talk in Gang, obwohl klar war, dass hier eigentlich niemand großartig reden wollte. Jeder wollte sein leibliches Kind sehen. Als ich gerade dachte: Ich will jetzt endlich zu meinem Kind, sagte Prof. von Rhein: »Sie möchten doch jetzt sicher die Kinder sehen?«
»Jaaa!«, riefen wir alle gleichzeitig und grinsten uns gegenseitig zu.
Ralf und ich gingen zu Leni, und Vanessa und ihre Mutter holten Angelina. Ja, so hieß mein Kind: Angelina! Das war so ziemlich der letzte Name, dem ich ihm gegeben hätte. Man dachte doch sofort an Angelina Jolie. Und ich mag diese Frau weder als Schauspielerin noch als Persönlichkeit. Ich finde, dass sie etwas Wahnhaftes hat mit ihren permanenten Adoptionen und Spendenaktionen, die sie immer an die große Glocke hängen muss. Aber zum Glück sagte Vanessa noch: »Wir rufen sie meist Lina.« Dieser Name gefiel mir ganz gut, er war ja sogar kurzzeitig in meiner eigenen Auswahl gewesen.
Wieder zurück in dem Raum, nahm ich Leni auf meinen Schoß. Und dann kam auch endlich Vanessa mit Lina auf dem Arm. Ich sah das Kind und spürte, wie mir leicht unwohl wurde. Ich schaute Ralf an und sagte verunsichert: »Das soll sie jetzt sein?« Ich hatte eine zweite Yara erwartet. Aber das Baby auf Vanessas Arm hatte weder mit Yara noch mit Ralf noch mit mir irgendwelche Gemeinsamkeiten. Es kam mir total fremd vor.
»Hoffentlich ist denen bei der Untersuchung kein Fehler unterlaufen. Stell dir mal vor, es stellt sich irgendwann heraus, dass wieder irgendwas vertauscht wurde«, murmelte ich.
Ralf lachte bloß kurz auf, und dann nahm er seine Tochter einfach auf den Arm.
»Also, nein, Frau Klos, da gibt es nun wirklich keinen Zweifel mehr. In dem Fall ist so viel untersucht worden, da können Sie sich tausendprozentig drauf verlassen«, versicherte Prof. von Rhein.
»Ja, das glaube ich Ihnen. Aber ich habe mir mein Kind so anders vorgestellt«, sagte ich tonlos und streichelte der kleinen Leni auf meinem Schoß mehr zu meiner Beruhigung über die Beinchen.
Augen hatte ich aber nur noch für Lina auf Ralfs Arm, und jetzt wollte ich mein leibliches Kind auch gern genauer ansehen. Ralf brachte sie mir, nahm Leni und setzte mir Lina auf den Schoß. Sie hatte einen riesigen Kopf und fast keine Haare. Ich suchte ganz pragmatisch nach Anhaltspunkten: Wo könnte etwas sein, mit dem ich mich identifizieren könnte? Ich betrachtete ihre Ohren. In meiner Familie mütterlicherseits waren schon häufig unterschiedliche Ohren vorgekommen – ein normal großes und ein überdimensional großes Ohr. Das ist sozusagen das Seidelsche Markenzeichen. Zum Glück hatte Lina zwei gleich große Ohren. Ihre Augen waren braun. Sowohl Ralf als auch ich haben braune Augen. Das war aber auch das Einzige, was identisch war. Alles andere kam mir so fremd vor. Das lag sicher auch an ihrer Kleidung – damit konnte ich gar nichts anfangen. Auf ihrem T-Shirt stand auf
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