Uebermorgen Sonnenschein - Als mein Baby vertauscht wurde
der Beerdigung von …« Das waren geradezu ihre Lieblingsthemen, sie waren wirklich ausdauernd darin, aber solche Gespräche könnte ich jetzt nicht ertragen.
Ich nahm Ralf beiseite, um ihn einzuschwören. »Wenn die jetzt mit ihren Horrorgeschichten anfangen, dann dreh ich durch!«
Ich weiß bis heute nicht, was er ihnen gesagt hatte. Aber diese gruseligen Gespräche wurden an diesem Abend ausgespart. Selbst über unser Schicksal verlor keiner ein Wort, und niemand, noch nicht einmal meine sehr nah am Wasser bauende Schwiegermutter, brach in Tränen aus – nur ich.
Yara hatte einen Roller geschenkt bekommen und kurvte damit gerade strahlend durchs Wohnzimmer. Leni fingerte an dem Steckspiel, das ich ihr schon vor ein paar Wochen in einem Spielzeuggeschäft ausgesucht hatte. In diesem Moment wünschte ich mir, dass Lina mit dem bunten Holzspielzeug spielen würde. Ich wollte es am liebsten behalten – für mein Kind. Eine große Traurigkeit erfasste mich. Ich schlich ins Schlafzimmer und sank kraftlos aufs Bett. Das Gesicht in einem Kissen vergraben fing ich an zu weinen. Und es brauchte eine ganze Weile, bis ich mich wieder beruhigen konnte. Als ich mir das Gesicht trocknete, dachte ich immer wieder, dass ich Lina sobald wie möglich ganz nah und für immer bei mir haben wollte. Ich stand auf und ging ins Bad, um mir die verquollenen Augen zu kühlen. Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, sah ich, wie Theodora Leni gerade liebevoll auf den Arm nahm. »Ach, mein Schätzlein, komm mal her. Ich drück dich noch mal«, sagte sie.
Abgesehen von ihrem morbiden Faible für Krankheiten und Todesfälle war sie zweifelsohne eine klasse Oma. Sie küsste und herzte die Kleine, während ich mich schämte. Wie konnte ich nur derart hässliche Gedanken haben? Und warum hatte ich nicht mehr das dringende Bedürfnis, mit Leni zu kuscheln? Ich tat es zwar noch, weil ich dachte, dass sie nichts bemerken dürfe und weil ich sie in der Beziehung nicht vernachlässigen wollte. Aber wenn ich ehrlich mit mir war, konnte ich diese »Urliebe« zu ihr nicht mehr verspüren.
KAPITEL 24
E ndlich war es am zweiten Weihnachtsfeiertag so weit, dass ich Lina wiedersehen konnte. Ich freute mich riesig auf sie. Wir machten mit Vanessa ab, dass wir zu ihr in die Jugendhilfeeinrichtung fahren würden. Dort gab es eine Gästewohnung, die uns zur Verfügung gestellt wurde.
Als wir hereinkamen, wünschte erst einmal jeder jedem »Frohe Weihnachten«, und dann aßen wir den Kuchen, den ich mitgebracht hatte.
Da saßen wir also alle zusammen auf einer großen Couch – Ralf, Yara, Leni, Vanessa, ihre Mutter und Vanessas kleine Schwester Jennifer und ich – und unterhielten uns. Nur Lina lag vor uns auf einer Krabbeldecke auf dem Boden. Ralf fragte Vanessa, wie es denn in dieser Einrichtung sei, ob sie sich wohlfühle. Vanessa meinte, es wäre in Ordnung, aber es gäbe auch »echt schräge Sachen«. Und dann erzählte sie so lebhaft, wie wir sie bis dahin gar nicht kennengelernt hatten, von einem Mädchen aus der Jugendhilfeeinrichtung, das sich nie duschte. »Die ist total abgedreht und eklig. Die ging jeden zweiten Tag ins Bad, sperrte zu, ließ die Dusche laufen und saß daneben. Irgendwann haben wir gemerkt, dass sie uns austrickste, weil sie so krass stank.«
Während ich ihr zuhörte, konnte ich meinen Blick nicht von Lina wenden. Sie war völlig verschnupft, und ihre Augen tränten. Sie trug ein weißes Käppi, das sie noch blasser machte, als sie es ohnehin schon war. Ich rutschte zu ihr auf den Boden, gab ihr mein Weihnachtsgeschenk und spielte ein wenig mit ihr, aber ich fühlte mich nicht wirklich wohl dabei. Ich hatte Sorge, dass ich vielleicht zu viel machen würde. So gern hätte ich sie dieses Mal geknuddelt und geküsst, aber ich hielt mich zurück. Auf keinen Fall wollte ich Lina zu sehr für mich vereinnahmen. Das höchste der Gefühle war ein Streicheln über ihre Wange. Ich wäre froh gewesen, wenn alle einfach hinausgegangen wären und ich sie für mich allein gehabt hätte. Ich merkte, wie sehr mich dieses Treffen anstrengte, auch wenn von außen alles locker und harmonisch wirkte.
Hin und wieder nahm Vanessas Mutter Leni auf den Arm. »Komm mal zur Oma.« Dann versuchte sie wieder, Leni ihrer Tochter ein wenig näherzubringen. Aber Vanessa ging auch dieses Mal nicht so richtig darauf ein. Prinzipiell fand ich die Bemühungen der Oma gut, aber sie wirkten auf mich auch aufgesetzt. Am Ende lief es mal wieder darauf hinaus,
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