Übersinnlich (5 Romane mit Patricia Vanhelsing) (German Edition)
trat, erkannte ich sie.
Es war niemand anderes als meine Großtante Elizabeth Vanhelsing, in deren Villa ich nach wie vor lebte.
Was macht Tante Lizzy da draußen - um diese Zeit?
Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.
Tante Lizzy verschwand hinter ein paar Sträuchern. Sie hielt irgend etwas in der Hand. Vielleicht ein Eimer... Ein kurzer Blick zur Uhr sagte mir, dass Mitternacht schon vorbei war. Die Vorstellung, schon bald wieder aufstehen zu müssen ließ mich schaudern. Und mindestens ebenso furchtbar war die Vorstellung eines grantigen Chefredakteurs. Und Michael T. Swann würde mit Sicherheit schlechte Laune bekommen, wenn ich vor lauter Übermüdung meine Artikel mit zahllosen Rechtschreib- und Tippfehlern spickte... Ich zog mich trotzdem an. Eine Jeans, ein Sweat-Shirt und Turnschuhe. Dann lief ich die Treppe hinunter. In Tante Lizzys Villa bewohnte ich die oberere Etage. Ich durchquerte den düsteren Flur, dessen Wände mit überquellenden Bücherregalen nahezu völlig bedeckt waren. Es war beinahe unmöglich, hier auch nur einen Quadratzentimeter zu finden, auf dem die freie Tapete zu sehen war. Aber so sahen in dieser Villa alle Räume aus - von meiner Etage abgesehen. Tante Lizzys umfangreiche Sammlung okkulter Schriften platzte aus allen Nähten.
Über den Salon gelangte ich zum Hintereingang der Villa. Die Tür war nur angelehnt.
Ich trat hinaus, fühlte den kühlen Wind, der mich ein wenig frösteln ließ und gleichzeitig den letzten Rest von Müdigkeit hinwegfegte.
Diese verfluchten Vollmondnächte...
"Tante Lizzy?", rief ich.
Niemand antwortete. Nur der Ruf einer Eule war zu hören, die irgendwo in dem dichten Geäst der hohen Bäume sitzen musste und auf Beute wartete.
Ich ging in den verwilderten Garten der Vanhelsing Villa. Das Gras war knöchelhoch und entsprach überhaupt nicht dem, was man gemeinhin unter einem englischen Rasen verstand. Aber bei all den Aktivitäten, die die alte Dame im Hinblick auf ihr Okkultismus-Archiv zu bewältigen hatte, konnte es schon vorkommen, dass die Gartenpflege etwas zu kurz kam. Vielleicht mit Ausnahme ihres Kräutergartens.
Ich lief durch das feuchte Gras und sah mich um.
"Tante Lizzy?"
"Kind!"
Ich sah sie am Ende des Steinplattenwegs. Ihre Hand hielt sie in der Nähe des Herzens. "Meine Güte, hast du mich aber erschreckt."
"Tut mir leid, das wollte ich nicht..."
"Mein Herz ist keine zwanzig mehr!" Sie näherte sich. In der Hand hielt sie tatsächlich einen Eimer. Ich konnte aber nicht erkennen, was sich darin befand. Immerhin musste er ziemlich schwer sein.
"Warte, ich nehme dir das Ding ab..."
"Nein, nein, Patti! Lass nur! So alt und gebrechlich bin ich dann doch noch nicht."
Ich sah sie etwas erstaunt an.
Der bleiche Mond spiegelte sich in den gütigen Augen jener Frau, die mich nach dem frühen Tod meiner Eltern bei sich aufgenommen hatte.
Sie lächelte matt.
"Was um alles in der Welt machst du hier draußen?", fragte ich. "Um diese Zeit!"
Sie seufzte, sah mich prüfend an und ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie nur nach einer Möglichkeit suchte, meiner Frage auszuweichen. "Musst du morgen nicht in die Redaktion?"
"Ja, sicher..."
"Mr. Swann wird nicht begeistert sein, wenn du vor dem Computer einschläfst.."
"Nun sag' schon! Du läufst doch nicht ohne Grund mitten in der Nacht durch den Garten!"
"Ich habe dir doch von den Schriften eines ungarischen von-Schlichten-Schülers erzählt..."
"Ferenz Borsody", sagte ich.
Tante Lizzy nickte.
Die - sehr seltenen und oft nur in unzureichenden Übersetzungen auffindbaren - Bücher des früh verstorbenen Okkultismus-Forschers Ferenz Borsody hatten es Tante Lizzy zur Zeit angetan. Borsody war ein Schüler des großen Okkultisten Hermann von Schlichten, der mit seinem Werk ABSONDERLICHE KULTE eine Art Kompendium des Ungewöhnlichen geschaffen hatte. Borsody hatte sich zeitlebens mit der Wirkungsweise der auch bei von Schlichten erwähnten Zeichen des lebenden Todes beschäftigt. Die Mächtigkeit dieser uralten Symbole hatte ich selbst vor kurzem erfahren.
Tante Lizzy hatte sich in letzter Zeit näher mit Borsodys Schriften befasst. Nacht für Nacht las sie in seinem recht umfangreichen Werk. Sie war inzwischen zu der Ansicht gelangt, dass Borsody möglicherweise Kenntnisse über von Schlichtens legendären aber verschollenen zweiten Band der ABSONDERLICHEN KULTE besaß und so studierte sie die Bücher des Ungarn nun nach versteckten Hinweisen.
Nächtelang brütete sie
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