Ufer des Verlangens (German Edition)
lebten?
In den letzten Tagen hatte Zelda nicht ein Wort über einen Fremden in der Gegend gehört. Und sie war sich ganz sicher, dass sie alles erfuhr, was hier in der Gegend geschah!
Plötzlich flog ihr ein Gedanke durch den Kopf. Ein erschreckender Gedanke sogar. Sie hielt Rose so abrupt an, dass die Stute verärgert schnaubte und auf die Hinterhand stieg. Zelda klopfte ihr beruhigend den Hals: »Ruhig, ruhig, es ist alles gut.«
Natürlich hatte niemand etwas von einem Fremden erzählt! Welcher Jungfrauenräuber war schon so dumm, sich im Dorf und auf den Manors sehen zu lassen, wenn er vorhatte, ein Mädchen zu stehlen. Auch von Ian La-verty hatte niemand etwas erzählt!
Auf ihre Frage, für welchen Freund er denn hier einen Gefallen zu erledigen hatte, hatte er ihr nicht geantwortet.
Zelda konnte sich nicht erinnern, jemals gehört zu haben, dass einer der Männer hier einen Freund in Edinburgh hatte!
Nun gut, sie war keine Spezialistin für Männerfreundschaften, aber ein Freund verbarg sich nicht im Wald und schaute nackten Mädchen beim Baden zu! Nein, wenn er schon mal hier zu Besuch war, so ging er mit seinem Freund jagen oder fischen und unternahm keine Ausflüge mutterseelenallein in unbekannte Wälder!
Und überhaupt! Wo sollte denn eine Freundschaft zwischen einem schottischen Lord aus dem Hochland, der die meiste Zeit mit seinem Gut beschäftigt war, und einem Mann aus der Stadt begonnen haben? Jeder Schotte, der etwas auf sich hielt, veranstaltete ein Fest, wenn er Besuch bekam, und lud die Nachbarn dazu ein.
Nein, Ian Laverty hatte gelogen! Er war kein Freund eines Highlanders, sondern ein Mädchenfänger, der sich heimlich im Wald versteckt hielt, um Jungfrauen auszuspionieren und sie später dann zu rauben.
Zelda dachte für einen Augenblick daran, was geschehen wäre, hätte Ian nachts an ihren Fensterladen geklopft.
Und wenn Joans Raub nur ein Versehen war? Wenn er es eigentlich auf sie abgesehen hatte?
Zelda nickte. So musste es gewesen sein! Diese Überlegung ergab einen Sinn! Er hatte sie am Waldsee ausspioniert, und als er sie dann hatte rauben wollen, hatte er sich im Zimmer getäuscht und war bei Joan eingestiegen.
Heiße Reue durchflutete Zelda bei diesem Gedanken. Allein ihretwegen war Joan jetzt in Gefahr. Nur, weil sie unbedingt zum See hatte reiten müssen, obwohl derVater es ihr verboten hatte. Sie war schuld an Joans Verschwinden. Sie ganz allein.
Doch wenn Ian Laverry tatsächlich ein Mädchenfänger, ein Jungfrauenräuber war, warum hatte Joan sich dann nicht gewehrt?
Sie, Zelda, hätte das ganze Haus zusammengeschrien, sie hätte getreten, gebissen, gekratzt, sich zur Wehr gesetzt.
Joan war eine stille Seele, aber auch sie wusste, wie man sich einem Angreifer gegenüber verhielt. Dieses Wissen war notwendig gewesen, solange der Krieg mit den Kingsleys gedauert hatte.
Connor hatte ihnen sogar ein wenig Fechten beigebracht. Auch den Umgang mit einem Dolch hatten sie gelernt.
Nein, Joan wäre niemals mit einem Fremden mitgegangen.
Und wenn Ian Laverry sie geknebelt hatte? So fest, dass sie nicht um Hilfe hatte schreien können? Oder hatte er ihr gar einen Schlag auf den Kopf verpasst, sodass Joan ohnmächtig geworden war?
Unbewusst leckte sich Zelda über die Lippen. Konnte ein Mann, der so zärtlich zu küssen verstand, gleichzeitig so brutal sein?
Zelda war wütend auf Ian Laverry. So wütend, wie sie noch niemals zuvor auf einen Mann gewesen war. Er war ein Schuft, ein Halunke, ein übler Betrüger. Aber war er denn auch gewalttätig?
Rose hatte sich die Nachdenklichkeit ihrer Herrin zunutze gemacht und war in einen gemächlichen Trab verfallen. Zelda bemerkte nichts davon. Sie dachte nach. So angestrengt, dass auf ihrer Nasenwurzel eine steile Falte erschien.
Nein, sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Ian Laverty Joan Gewalt angetan hatte.
Und warum hatte der alte Hofhund nicht gebellt? Er riss doch sonst bei jedem Fremden sein Alaul weit auf und kläffte das ganze Haus zusammen.
Allerdings, so überlegte Zelda, war der Holhund bestechlich. Ein Zipfelchen Wurst genügte, und er würde jeden Fremden eigenhändig und vollkommen pflichtvergessen zu den Geldladen im Gutshaus führen. Die waren seit dem Krieg zwar ohnehin leer, doch das wusste der Hund ja nicht.
Sollte es wirklich so gewesen seih, dass Laverty den Hund bestochen und anschließend Joan geknebelt hatte, sodass sie ihm hilflos ausgeliefert war und er sie in aller Ruhe rauben
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