Ufer des Verlangens (German Edition)
niemals auf Bäume und Mauern geklettert?«
»Doch, natürlich bin ich das«, erwiderte Zelda im Flüsterton und sprach dabei die Wahrheit. Wie oft war sie von ihrem Vater diesbezüglich gescholten worden. »Also los. Ihr geht zuerst«, bestimmte sie.
Sie verschränkte die Finger beider Hände ineinander und hielt sie der Wehfrau hin, sodass diese ohne Mühe darauf steigen konnte.
Die Alte stützte sich auf Zeldas Kopf ab, fasste dann nach dem Rand der Mauer und schwang sich mit der Geschicklichkeit eines jungen Mädchens darüber. Kurz darauf hörte Zelda sie auf der anderen Seite hinunterplumpsen.
»So, jetzt Ihr«, rief die Wehmutter leise. »Beeilt Euch. Es ist niemand zu sehen. Wir müssen nicht warten, bis der Nachtwächter auf seiner Runde hier vorbeikommt.«
Zelda schätzte die Mauer kurz ab, nahm ein paar Schritte Anlauf, rannte darauf zu, stieß sich kräftig mit beiden Beinen vom Boden ab und bekam den rauen Mauerrand zu fassen. Sie biss die Zähne aufeinander, nahm all ihre Kraft zusammen und stemmte sich mit den Armen so weit nach oben, dass sie schließlich zuerst ein, dann das andere Bein über die Mauer schwingen konnte. Sie sprang auf der anderen Seite herunter und fiel dabei vornüber. Die Wehfrau zog sie an einer Hand hoch, dann sagte sie: »Wir müssen hier entlang. Ich kenne einen Durchschlupf, der uns sicher aus der Stadt bringt, ohne dass wir die öffentlichen Tore passieren müssen – die nachts ohnehin geschlossen sind.«
Sie huschte flink wie ein Wiesel davon, und Zelda folgte ihr.
Schweigend und immer im Schutz der Hausmauern hasteten sie durch nachtschlafende, stille Gassen, bis sie schließlich an ein kleines Wäldchen kamen, in dem die Stadtbewohner wohl ihre Schweine und Ziegen nach Futter suchen ließen.
»Auf, hier entlang. Gleich kommt der Durchschlupf.«
Die Alte winkte Zelda mit dem Finger und zeigte auf ein wackeliges Holztürchen in der Stadtmauer.
Sie öffnete das Brett, das in den Angeln zum Gotterbarmen quietschte, dann schlüpften sie hindurch, ließen sich ins Gras fallen und rangen keuchend nach Luft.
Nach einer Weile fragte Zelda: »Und was jetzt?«
Die Wehmutter zuckte mit den Achseln. »Ich muss weg von Bluecastle, muss auch aus der Gegend verschwinden. Unsere Flucht wird nicht lange unentdeckt bleiben. Man wird nach uns suchen, und wenn sie uns finden, so ist uns der Scheiterhaufen sicher. Doch wohin wollt Ihr?«
»Ich muss nach Edinburgh. Auf dem allerschnellsten Wege.«
Die Alte wiegte den Kopf hin und her. »Ein weiter Weg. Und nicht ungefährlich für einen zarten Jüngling wie Euch. Wir könnten zusammen gehen. Gemeinsam sind wir weniger gefährdet als allein. Oder schämt Ihr Euch mit einer alten Frau?«
Zelda schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin froh, dass Ihr mit mir kommt. Doch ich bin in großer Eile. Seid Ihr bereit, Euch ebenfalls zu sputen?«
»Aber natürlich! Auch ich möchte so schnell wie möglich eine recht große Strecke zwischen unsere Häscher und uns legen. Am besten aber wäre es, wir würden unser Aussehen verändern.«
Die Wehmutter stand auf, stellte sich vor Zelda, lächelte ein wenig und sagte: »Wollt Ihr nicht endlich Eure alberne Verkleidung ablegen? Man wird nach einer alten Frau und einem jungen Mann suchen. Eine Mutter, die ihre Tochter nach Edinburgh begleitet, wird dagegen niemandem auffallen.«
»Ihr wisst …?«, fragte Zelda fassungslos.
Die Alte winkte ab. »Natürlich, Kindchen. Ich kenne den Körper einer Frau wie keine andere. Mich könnt Ihr nicht täuschen.«
Jetzt lächelte auch Zelda. Sie nahm ihr Barett vom Kopf, löste den Verband und genoss das Gefühl der frischen Nachtluft in ihrem Haar und auf der Haut.
Sie schüttelte die langen, roten Locken und fuhr sich mit den gespreizten Fingern wie mit einem Kamm hindurch. Dann sah sie an sich herab.
»Ich trage Männerkleidung«, sagte sie. »Wird es den Leuten nicht merkwürdig vorkommen, eine Frau in Männerkleidung zu sehen?«
»Habt Ihr nichts anderes?«, fragte Elizabeth, die Wehmutter.
Zelda schüttelte den Kopf. »Nichts habe ich. Gar nichts. Meine beiden Satteltaschen, in denen ich ein wenig Wäsche und Geld hatte, sind noch immer im Rathaus. Der Schreiber des Coroners hat sie mitgenommen und wahrscheinlich irgendwo eingeschlossen. Ich besitze nur das, was ich auf dem Leib trage.«
»Dann werdet Ihr Euch wohl mit einem Kleid von mir behelfen müssen«, stellte Elizabeth gleichmütig fest.
»Wie wollt Ihr an Kleidung kommen? Soviel ich sehe,
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