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Ufer von Morgen

Ufer von Morgen

Titel: Ufer von Morgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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seines Nervenstarters und ließ sich die Synapsen reinigen, um die Schläfrigkeit aus seinem Nervensystem zu vertreiben. Er pfiff leise vor sich hin und schaltete von der Reinigung auf die Aufladung mit Energie um. Irgendwo aus der Tiefe der Stadt drangen wohltuende Ionen zu ihm herauf in seine Wohnung und versetzten seinem Hirn einen leichten Stoß, der als Anreiz eben genügte, um den Tag zu beginnen.
    Er duschte und programmierte ein leichtes Frühstück, zog sich an und weckte das Mädchen. »Muß arbeiten«, sagte er.
    Sie zog eine Schnute. Sie war ein paar Jahre jünger als Wilcox und hielt die spannungsgeladene Schnute für gute Taktik. »Wir wollten doch heute durch die Grav-Schächte schießen.«
    »Später, Kindchen. Ich muß um sieben siebenundzwanzig auf Ebene neunzehn sein.«
    An der hinteren Wand entfalteten sich die Morgennachrichten. Sie aßen ihr Frühstück. Die Stimme des Bildschirmes erklärte, daß es überall um die Stadt herum regnete. In der Stadt selbst regnete es natürlich nicht. In der Stadt gab es überhaupt kein Wetter, nur Klima. Man konnte sich auf die Aussichtsebene am Scheitelpunkt der Kuppel begeben und dem Regen, dem Schnee, dem Nebel, dem Smog zusehen, oder dem, was sich vor der Stadt tat. Man konnte all das von der Aussichtsebene aus sehen, aber spüren konnte man es nicht, solange man in der Stadt blieb. Und niemand verließ je die Stadt.
    Wilcox hatte nicht den Wunsch, das Wetter draußen von der Aussichtsebene aus zu betrachten. Er ging nur hinauf, wenn ihn ein Eilruf hinaufführte, weil es etwas zu reparieren gab. Das geschah vielleicht zweimal pro Jahr, und er erledigte seine Arbeit und ging rasch. In der Stadt selbst gab es genug Abwechslung. Warum aus der Kuppel hinausblicken, wenn es in ihr soviel Zeitvertreib gab?
    »Gehe jetzt zur Arbeit«, verkündete er.
    Sieben Uhr sechzehn. Er hatte das Klingeln noch in den Ohren.
    Der Durchgangsschacht führte ihn immer höher hinauf, führte ihn aus den Wohngebieten der Unverheirateten rasch hinauf auf Ebene neunzehn. Auf dem Weg schleuderten ihm Bildschirme acht leuchtend bunte Unterhaltungsprogramme entgegen, die gleichzeitig liefen. Auf neunzehn stieg er aus und nahm die westliche Eilstraße zum Krankenzentrum. Die Fahrt dauerte vier Minuten. Alle fünfzig Meter kam eine Kreuzung und mit ihr ein kleiner Schauer leichter Musik. Erst vergangene Woche hatte Wilcox drei Tage hintereinander damit verbracht, die Schaltkreise neu einzustellen, die die Eilstraße auf Ebene dreißig zum Singen brachten. Hier unten wurde ein anderes Lied gespielt.
    Es war sieben Uhr sechsundzwanzig. Vor ihm ragte die glänzende Empfangswand des Krankenzentrums auf. Er glitt weiter auf sie zu. Sie verfärbte sich von Grün zu Gelb und etwas machte poch.
    »Befragung«, sagte die Wand.
    »Wilcox, Reparaturtrupp.«
    Poch. poch. Die Wand öffnete sich für ihn, und die Eilstraße wirbelte ihn hinein. Drinnen war alles intensiv weiß, weißes Licht, weiße Wände, weiße Uniformen, der weiße Geruch der Krankenhausluft. Poch. Das Beförderungsband schob ihn links in einen Lagerraum voller Geräte. An der Wand standen sechs müßige Reparaturmaschinen. Ihre verkabelten Arme ragten steif und bewegungslos wie die einer Gottesanbeterin in die Höhe. Poch, und eine weiche Stimme sagte: »Die Wartungsanlage eines unserer Patienten in Intensivbehandlung ist in schlechtem Zustand. Unsere Mechaniker können die Fehlerquelle nicht finden. Die Anlage funktioniert schätzungsweise seit 113 Minuten nicht mehr. Welches Werkzeug benötigen Sie?«
    »Den normalen Kasten«, erwiderte Wilcox. »Kann ich den hier haben?«
    »Einverstanden.«
    Poch. Weiter.
    Er wurde mit dem Werkzeugkasten in der Hand zu einem Kriechgang geführt, der über einem Privatzimmer lag. Unter ihm lag wie eine eigene kleine Stadt unter einer durchsichtigen Kuppel ein alter Mann, ein ururalter Mann, verschrumpelt und zwergenhaft, eingesponnen in Schläuche und medizinische Apparaturen. Sein Gesicht war schrecklich bleich, die Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in den Höhlen. Doch diese dunklen, glänzenden Augen spähten gespannt zu Wilcox hinauf. Wilcox versuchte, die Augen zu vergessen, und brachte Klammern und Meßgeräte an, um den gestörten Stromkreis ausfindig zu machen.
    »Du da«, sagte der alte Mann scharf, »he, wer bist du?«
    »Wilcox, Reparaturtrupp.«
    »Was reparierst du?«
    »Die Wartungsanlage Ihrer Intensivstation«, antwortete Wilcox. Er hatte schon eine

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