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Uferwald

Titel: Uferwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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Disziplinarverfahren. Fein. Kein Wort mehr dazu, und in ihre Fahndungsaufrufe sollen sie hineinschreiben, was ihnen gerade passt. Außerdem will Tamar nach Paris. Ich kann mir nicht helfen, aber ich will das nicht. Solveig gehört mir...
     
    Kuttler ließ den Kugelschreiber sinken. Was schreibe ich da? dachte er. Das ist doch Unsinn. Ich bin krankgeschrieben. Nicht im Dienst. Und was heißt: die und die gehört mir? Bin ich vielleicht ein Jäger? Und will ich das: jemanden jagen?

Straßenfluchten
    E in kalter Nordwestwind ließ die rotweißen Plastikbänder flattern, die die Straßenböschung absperrten. Weiter hinten stand ein Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht. Durch das fast schon entlaubte Ufergehölz sah man die Donau und einen Schwan, der sich mit gesträubtem Gefieder über das graue und gekräuselte Wasser treiben ließ.
    »Eine lange, gerade Straße, Bäume links, Bäume rechts«, murmelte der Unfallexperte Hans Herbert Ziffringer, als ob man Unfallexperte sein müsse, um eine gerade Straße als gerade zu erkennen. Er war ein großer, windschnittiger Mann mit einer schwarzen Hornbrille und einem Schnurrbart, der zu einem schmalen Streifen rasiert war wie bei Clark Gable, als er den Rhett Butler spielte. Ziffringer war am Morgen vom Landeskriminalamt gekommen und hatte bei seinem ersten Gespräch mit Tamar jedenfalls nicht alle ihre Hypothesen als Hirngespinste abgetan. Bei den Leuten, die sonst von Stuttgart kommen, ist das nicht selbstverständlich.
    »Ich weiß nicht, ob Sie das interessiert«, sagte Heilbronner, »im Unfallbericht steht es nicht eigens drin, aber wir haben keine Bruchstücke von einer Windschutzscheibe gefunden, dabei hab ich extra danach gesucht.«
    »Und warum haben Sie das?«
    Heilbronner wurde verlegen. »Ich hab mich gewundert, verstehen Sie? Warum ist der Radfahrer eigentlich nicht nach hinten geflogen, auf die Motorhaube und in die Frontscheibe.«
    »Das hätte natürlich auch passieren können«, sagte der LKA-Mann, »da spielen aber viele Faktoren eine Rolle. Wie ist der junge Mann gefahren – sportlich, mit richtigem Antritt, oder hat er getrödelt? In welcher Position ist er auf dem Rad gesessen? All das müsste man erst einmal rekonstruieren... Er hatte getrunken?«
    »Nicht so viel«, antwortete Tamar. »0,7 Promille.«
    Ziffringer sagte nichts, sondern ging zu dem von den Bibern angenagten Baum. »Hier habt ihr ihn gefunden?«
    Heilbronner nickte. Langsam ging Ziffringer zurück auf die Straße, die Unfallskizze von der Neujahrsnacht 1999 in der Hand. »Wenn der junge Mann in Schlangenlinien gefahren sein sollte«, sagte er schließlich, »und sich zum Zeitpunkt der Kollision in einer Bewegung nach rechts befunden hat, dann mag der Autofahrer sozusagen ganz normal von hinten aufgefahren sein. Wenn nicht, hat der Autofahrer den Wagen unmittelbar vor dem Auffahren nicht abgebremst, sondern ihn ganz von rechts, also fast vom Bankett, nach links gezogen. Sehr einleuchtend.«
    »Warum ist das einleuchtend?«, fragte Tamar.
    »Weil es eine lange, gerade Straße ist mit Bäumen links und Bäumen rechts«, antwortete Ziffringer. »Haben Sie schon einmal einen Blick auf die deutsche Unfallbilanz geworfen, nach Bundesländern aufgegliedert?«
    »Eigentlich nicht«, gestand Tamar.
    »Wenn Sie es getan hätten, wüssten Sie, dass es im Vergleich zum Bundesdurchschnitt eine signifikant höhere Zahl von tödlichen Unfällen in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern gibt. Das hat nicht nur mit Frust, Aggression und Bier zu tun, sondern auch mit den schnurgeraden Alleen, wie sie vor allem in diesen beiden Bundesländern so schön erhalten sind.« Tamar sah ihn fragend an.
    »Es ist das Tunnelsyndrom«, fuhr Ziffringer fort. »Weil die Strecke so gerade ist, erweckt sie die Illusion, das ginge immer so weiter. Die Leute drücken aufs Gas, die Strecke ist nochimmer gerade, sie strebt sozusagen ins Unendliche, kein Ende ist in Sicht, plötzlich taucht ein Hindernis auf und zieht magisch den Blick an...«
    »Und dann?«
    »Wenn etwas ihren Blick anzieht, dann ist es ihre erste instinktive Reaktion, darauf zuzufahren«, antwortete Ziffringer. »Machen Sie mal einen Slalom-Test auf einem Trainingsplatz. Sie schaffen den nur, wenn Sie sich nicht auf die Markierungskegel konzentrieren, sondern auf den Zwischenraum zwischen ihnen.«
    Eine Windbö wirbelte Laub auf. Das war es, dachte Tamar. Aus. Alle Hinweise, selbst Danneckers halbes Geständnis: wertlos. Es war das

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