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Uferwald

Titel: Uferwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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Tunnelsyndrom.
    »Und wenn wir berücksichtigen, dass es die Neujahrsnacht war«, fuhr Ziffringer fort, »und der unbekannte Autofahrer vermutlich getrunken hatte, dann erscheint der Fall fast schon klar. Wenn da nicht ein Haken wäre...«
    Es reicht, dachte Tamar. Keine Häschen aus dem Zylinder mehr!
    »Es kann nämlich kein Betrunkener gewesen sein.« Ziffringer deutete auf das Gebüsch an der anderen Straßenseite. »Ein Betrunkener hätte seinen Wagen nicht mehr abgefangen. Er wäre in den Hecken dort gelandet.« Er sah Tamar an. »Ein nüchterner Fahrer also. Beträchtliche Geschwindigkeit. Etwas angemüdet. Den Radfahrer gesehen und plötzlich nach rechts geraten. Dann den Wagen nach links gezogen... aber nicht panisch das Steuer herumgerissen, sondern ganz kontrolliert. Beherrscht. Sie werden lachen, ein guter Fahrer...«
    »Ich lache nicht«, sagte Tamar. »Auch wenn ein guter Fahrer das Tunnelsyndrom eigentlich im Griff haben müsste.«
    »Da haben Sie auch wieder Recht«, meinte Ziffringer, nahm die Hornbrille ab und rieb sich die Augen. Die Augen waren klein und engstehend, und der ganze Mann sah plötzlich überhaupt nicht mehr windschnittig aus. »Ich schau mir mal das Fahrrad an, das ist ja dankenswerter Weise sichergestellt worden.Aber beweisen – also beweisen werden wir wahrscheinlich nichts mehr können. Wenn wir damals den Unfallwagen gefunden hätten, dann, ja dann vielleicht wäre eine exakte Rekonstruktion der Kollision möglich gewesen, verstehen Sie? Vielleicht – aber nur sehr vielleicht! – hätten wir aus den Verformungen der Stoßstange und den Anhaftungen daran mittels einer Computersimulation ableiten können, ob der Fahrer den Wagen abrupt nach links gezogen hat oder ob es sich um eine im ganzen Ablauf gesteuerte und beherrschte Fahrbewegung gehandelt hat.«
    Tamar blickte zu Heilbronner. Der hob ganz leicht die Augenbrauen.
    »Das heißt«, fragte Tamar, »es ist das eine möglich und das andere auch?«
    »So ist das im Leben«, antwortete Ziffringer. »Was glauben Sie, wie ich das satt habe? Da erstellen Sie mit viel Liebe und Mühe ein Gutachten, nur damit man sich dann von den Leuten sagen lassen muss, sie seien so klug als wie zuvor.«
    »So geht es mir jetzt allerdings auch«, bemerkte Tamar.
    »Ja, aber jetzt wissen Sie wenigstens, warum.«
     
    A m Abteilfenster vorbei zog eine flache, fast eintönige Landschaft, unterbrochen manchmal von Dörfern mit unscheinbaren grauen Häusern oder einer kleinen Stadt mit einer Kirche, deren Turm wie ein Stumpf aussah. Auf dem leeren Abteilsitz neben ihm lagen sein Schreibheft und ein schwarz gebundener Quartband, der Text des Theaterstücks »Kommen. Gehen. Schweigen«, Kuttler hatte es noch am Vormittag in der Buchhandlung Schoepflin abgeholt, eine halbe Stunde vor Abfahrt des Eurocity »Maurice Ravel«. Aber zum Schreiben war er zu müde, und das Stück war zum Lesen zu trostlos, die Personen darin redeten und redeten und verstanden einander nicht, das hatte er auch in der Wirklichkeit.
    Müde war er, weil man im Krankenhaus sinnlos früh gewecktwird und weil er sich erst mit dem Stationsarzt hatte herumstreiten müssen, bis dieser ihm endlich den Turban abgenommen und auf eigene Verantwortung hatte gehen lassen. Nicht einmal von Hattakuk hatte er sich richtig verabschieden können, der war nur dagelegen und hatte in die Luft gestarrt, vermutlich nahm er an, der Cognac sei ihm abhanden gekommen, weil Kuttler gepetzt hatte.
    Außerdem hätte er nachzudenken gehabt. Was genau hatte er eigentlich vor? Auch das Nachdenken ging nicht so gut. Die Welt rauschte an ihm vorbei, mit dem unendlich gleichförmigen Fahrgeräusch des Eurocity, Kuttler geriet in das labile Gleichgewicht zwischen Wachen und Schlafen, das keine Träume hervorbringt, sondern nur Bruchstücke von Bildern und Satzfetzen, deren Sinn nicht zu erkennen ist.
    Er würde Solveig finden, Tamar hatte etwas von einem Lebensmittelladen in der Rue Lamarck gesagt, in der Schule hatte er von Lamarck gehört, Biologie, zehnte Klasse, wie und warum verändern sich die Arten? Komische Frage, viel interessanter ist doch, wie und warum verändern sich die Individuen, würde beispielsweise er, Markus Kuttler, sich noch verändern können und dahin gelangen, sich nicht mehr zum Deppen machen zu lassen, zum Hanswurst, dem man alte Kühlschränke vor die Haustüre stellt, oder würde er sich wenigstens so weit verändern können, dass ihm das alles gleichgültig sein wird?
    Der Zug wurde

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