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Uferwald

Titel: Uferwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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langsamer und langsamer, Kuttler schrak hoch und sah ein großes graues und ungewöhnlich scheußliches Betonhochhaus vor sich, der Zug hielt: Nancy. Er stand etwas schwankend auf und machte den Fehler, in den Spiegel über dem Sitz gegenüber zu schauen. Ein bleiches Gespenst mit ungewaschenen Haaren und einem noch immer viel zu großen Pflaster über Schläfe und Stirn blickte ihm aus trüben Augen entgegen.
    Rasch wandte er sich ab und holte aus seiner Reisetasche den Pariser Stadtplan, den er sich bei Schoepflin gleich noch hatte mitgeben lassen.
     
    T amar warf das Notizbuch auf den Schreibtisch und hängte ihren Mantel an den Garderobenhaken neben der Tür. Der Anrufbeantworter blinkte. Jetzt bitte nicht der Kriminalrat! Sie drückte auf die Abspieltaste, es war nur ein Anruf eingegangen: Armbruster bat um einen Rückruf. Sie nahm das Telefon und wählte, Armbruster meldete sich.
    »Es hat sich eigentlich schon erledigt«, sagte er. »Mit dem Herrn Dannecker sind wir fürs Erste so weit klar, aber weil er weitgehend geständig ist, hält die Staatsanwaltschaft U-Haft nicht für angezeigt, es sei denn, du hast noch Einwendungen oder Fragen an ihn. Aber da ich dich nicht erreicht habe...«
    »Du hast ihn also laufen lassen?«
    »Ja, vor einer halben Stunde.«
    »Das ist in Ordnung so«, sagte Tamar. »Im Augenblick haben sich weitere Fragen erledigt. Wie es aussieht, ist dieser Student bei einem stinknormalen Unfall umgekommen.« Jedenfalls werden wir kaum etwas anderes beweisen können.
    »Ach ja?«, kam es durch den Hörer und klang merkwürdig enttäuscht. »Ich war mir fast sicher...«
    Tamar zog die Augenbrauen zusammen. »Wessen warst du dir sicher?«
    »Dass da noch irgendeine krumme Sache sein muss«, erklärte Armbruster. »Danneckers finanzielle Verhältnisse sind noch einen Dreh jammervoller, als es sein müsste. Verstehst du – eigentlich müsste er sein Auskommen haben. Seine Frau, diese Richterin, verdient ja ordentlich. Die kamen also die ganzen Jahre gut über die Runden und haben sogar einen kleinen außerehelichen Verkehrsunfall verkraftet.«
    »Bitte was?«
    »Dannecker hat eine Tochter, und er hat zwanzig Jahre lang Alimente für sie bezahlt, das ist doch eine feine Sache, wenn man eine Frau mit festem Einkommen und einem verzeihenden Herzen hat. Erst in den letzten Jahren hat er angefangen, über seine und ihre Verhältnisse zu leben. Er sagt nichts dazu, aber es muss mit diesem Mädchen in Thalfingen zusammenhängen.Die hat ihn ordentlich gemolken. Und irgendwann hat er seiner Frau wohl nicht mehr erklären können, warum er schon wieder blank ist, und so ist er dann an das Geld von diesem Rollstuhlfahrer gegangen. Nur... das hat immer noch nicht gereicht.«
    Tamar wartete. Warum konnten die Leute einem nicht einfach sagen, was sie wussten? Vermutlich würde Armbruster jetzt am liebsten eine PowerPoint-Präsentation machen. Und hier sehen Sie...
    »Anfang 1999 hat er ein Darlehen aufgenommen«, fuhr Armbruster fort, »einen von diesen Halsabschneider- und Haifisch-Krediten, den jemand nur aufnimmt, wenn es überall sonst absolut zappenduster ist. Und hier, siehst du, frage ich mich: Wozu hat er den gebraucht? Er kann es mir nicht sagen.«
    »Wie hoch war dieser Kredit?«
    »Vierzigtausend Mark. Ein halbes Jahr später hat er dann eine Umschuldung geschafft, mit Hilfe seiner Frau, so dass die Zinsbelastung ihn nicht gleich damals umgebracht hat. Und seither hat er immer so viel Luft gehabt, dass er gerade noch auf dem letzten Loch pfeifen konnte, die ganzen Jahre.«
    »Kein schönes Bild«, sagte Tamar.
    »Eigentlich ein armer Teufel«, meinte Armbruster. »Aber irgendwie wollen mir keine Tränen kommen.«
    »Und es gibt keinen Beleg und keinen Hinweis und nichts, wofür er die Vierzigtausend verwendet hat?«
    »Absolut nichts.«
    Tamar verabschiedete sich und legte den Hörer auf. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen.
    Der Fall Tilman Gossler war gestorben, jedenfalls für den Augenblick. In der Neujahrsnacht 1999 war Dannecker im Kloster Neresheim, behauptet seine Frau, oder hatte dort zumindest an der Mitternachtsmesse teilgenommen. Vielleicht hatte er das auch wirklich getan, und wenn nicht, würde das ebenso schwer zu beweisen sein wie die Behauptung, der Unfall sei absichtlich herbeigeführt worden.
    Und die Vierzigtausend? Honorar für einen Auftragsmord? Vielleicht. Wenn es ein Mord war. Wenn es überhaupt einen Mörder gibt.
    Sie öffnete wieder die Augen und griff zum

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