Uferwald
Hörer. Das Telefon an Kuttlers Krankenbett war abgemeldet. Wieso? Sie wählte erneut, erreichte die Zentrale des Klinikums und ließ sich mit der Neurologischen Abteilung verbinden.
»Tut mir Leid – der Herr Kuttler ist nicht mehr bei uns.« Wieso? Warum? Seit wann nicht mehr?
»Er ist heute Morgen auf eigenen Wunsch und Verantwortung entlassen worden.«
Kuttler, du hast sie nicht mehr alle. Sie holte ihr Handy heraus und rief eine der gespeicherten Kurzwahlen auf. Nach dem ersten Klingelton meldete sich eine Stimme mit leicht schwäbischem Anklang:
»Sie sind mit dem Anrufbeantworter von Markus Kuttler verbunden. Ich freue mich auf eine Nachricht von Ihnen.«
Du kannst mich mal, dachte Tamar.
D er Lift erreichte die Ausgangsebene, zwanzig oder dreißig Menschen strebten hinaus und gelangten durch die beiden Stoßtüren und den gekachelten, mit weggeworfenen Metro-Billets übersäten Gang ins Freie. Es war schon dunkel geworden, die Straßenbeleuchtung war eingeschaltet und vermischte sich mit dem Nebel und dem Licht aus den Schaufenstern der kleinen Geschäfte. Es roch nach Autos mit veralteten Katalysatoren, nach Feuchtigkeit und einer Vorahnung von Regen.
Kuttler stellte seine Reisetasche ab und sah sich um. Er war in der Rue Lamarck, und es war überhaupt kein Problem gewesen, hierher zu finden, am Bahnhof hatte er die Metro 4 genommen und war an der Station Marcadet-Poissonniers in die 12 umgestiegen, nach einem Marsch durch endlose Gänge, und danach bis Lamarck-Caulaincourt gefahren. Das alles war sehr schnell gegangen, aber bisher hatte er von Paris nichts weitergesehen als Metro-Stationen und Fußgängertunnels. Doch jetzt... links von ihm war ein Café oder besser: eine Kneipe, Leute standen an der Theke und sahen nicht so aus, als ob es sinnvoll wäre, sie nach einem Hotel zu fragen. Rechts war ein Blumenladen, und ihm gegenüber, von der anderen Straßenseite aus, führte eine Staffeltreppe weiter nach unten, zu dem Häusermeer hinab, dessen Lichter durch die Dunkelheit zu sehen waren, vermutlich war dort der Norden der Stadt oder deren nördliche Vororte.
Vielleicht versuchte er es doch besser in der anderen Richtung, um ein Hotel zu finden. Er drehte sich um, links und rechts des Eingangsportals zur Metro-Station führten Treppen nach oben, also weiter zum Montmartre oder jedenfalls zur nächsten Straße. Hoch über ihm schimmerte die Neonreklame eines Hotels, das Hotel hatte zwei Sterne, im Reiseführer hatte er gelesen, dass dies maßvollen Komfort und noch bezahlbare Preise bedeute.
Er stieg hoch, das Hotel war ein schmaler hoher Eckpfeiler einer Häuserzeile in einer Straße, in der es Bäume gab und eine kleine Anlage. Die Rezeption war ein enges kleines Kabuff, ein dunkelhäutiger Mann ließ einen kurzen, unauffälligen Blick über Kuttler streifen, das Pflaster musste doch erheblich irritieren, schien dann aber den Portier oder Empfangschef – oder wie immer man ihn hätte nennen mögen – nicht weiter zu stören. Nach kurzem Überlegen fand er ein freies Zimmer, Kuttler füllte den Meldezettel aus und trug als Beruf »fonctionnaire« ein, weil sein Taschenlexikon behauptet hatte, dass das in Frankreich ein Beamter sei.
Ein winziger altersschwacher Aufzug führte ihn in den sechsten Stock, in ein kleines Zimmer mit Duschklo, einem Anderthalb-Personen-Bett, einem Schrank und einem Fenster, das bis auf den Boden ging. Kuttler hängte seinen hellen Popeline- Mantel in den Schrank und öffnete die Fenstertür. Ein Schwung frischer Luft kam herein, die kaum mehr nach Autoabgasen roch. Auf der anderen Straßenseite konnte er in die Wohnungenund Appartements eines Hauses mit einer Jugendstilfassade sehen, die Wohnungen sahen großzügig aus und elegant, ohne dass sich Kuttler genau hätte erklären können, was an ihnen elegant war. Vor allem aber sahen sie teuer aus. Weiter oberhalb davon war die kleine Anlage, die er schon beim Heraufkommen gesehen hatte, und von ihr führten wieder andere Treppen noch weiter nach oben.
Er duschte und überwand sich dazu, sich nicht die Haare zu waschen, denn danach hätte das Pflaster noch fragwürdiger ausgesehen. Als er sich abgetrocknet hatte, wollte er sich zunächst hinlegen, er sah nicht nur müde aus, er war es auch. Aber dann fiel ihm ein, dass er auch morgen noch würde ausschlafen können. Er zog sich wieder an, räumte sein Gepäck aus und verstaute es im Schrank. Dabei fand er, ganz unten in seiner Reisetasche, sein Handy. Einen
Weitere Kostenlose Bücher