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Uferwald

Titel: Uferwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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Augenblick lang überlegte er, ob er es einschalten solle.
    Nein, entschied er dann. Er wollte nichts hören, von niemandem.
     
    E s war bereits dunkel, und zwischen den Bäumen rechts und dem Gebüsch links war der Straßenraum vom Licht der Autoscheinwerfer ausgefüllt. So ganz gerade ist diese Straße nun auch wieder nicht, dachte Tamar, in leichten Krümmungen folgt sie dem Lauf der kanalisierten Donau. Was geschieht da wirklich, wenn man diesen Tunnelblick bekommt? Ist das eine Art Sog, der einen magisch zu jenem Punkt zieht, an dem die Straßenbegrenzungen zusammenzulaufen scheinen und die Parallelen sich schneiden? Wäre es also möglich, dass ein Autofahrer ein Hindernis deshalb nicht wahrnimmt, weil er ausschließlich diesen imaginären Schnittpunkt im Auge hat und auf ihn zufährt?
    Übrigens ist das eine Definition, dachte sie, die auch auf den polizeilichen Tunnelblick zutreffen könnte. Weil ich auf ein vorgefasstes Ziel festgelegt bin, sehe ich den Radfahrer nicht. Also?
    Statt einer Antwort blinkte Tamar links und ordnete sich auf die Abbiegespur ein, die nach Thalfingen führte. Sie hatte beschlossen, sich ab sofort nicht nach mehr oder weniger imaginären Verdachtsmomenten zu richten, sondern nach dem Radfahrer. Nach Tilman also, und so würde sie dorthin fahren, wohin auch Tilman – vermutlich – gewollt hatte.
    Das Apartementhaus lag auf halber Höhe, in einem Wohngebiet, dessen bereits zugewachsene Gärten darauf hindeuteten, dass es in den siebziger oder frühen achtziger Jahren bebaut worden war. Alle Stellplätze waren belegt, und so musste Tamar ihren Wagen halb auf dem Gehsteig parken.
    Die Namen auf dem Klingelbrett waren nicht einheitlich gestaltet. Manche Namensschilder waren ausgedruckt, andere nur handschriftlich eingetragen. Bei etlichen Wohnungen waren zwei Namen angegeben, mit Schrägstrich verbunden, also waren es Wohngemeinschaften oder Partnerschaften auf Zeit, was nicht dafür sprach – Tamar hatte hier einschlägige Erfahrungen –, dass sie vor sieben Jahren bereits bestanden hatten. Schließlich entschied sie sich für einen Namen, der sich so las, als sei er ein deutscher, und klingelte.
    In der Sprechanlage meldete sich, etwas undeutlich, eine Männerstimme. Tamar nannte ihren Namen und sagte, dass sie um eine Auskunft bitte.
    »Müssense Elf-Acht-Dreiundreißig anrufen«, antwortete die Stimme. Trotzdem summte der Türöffner, Tamar stieg zum zweiten Stock, wo in einer der Türen ein mittelgroßer unrasierter Mann stand, dem ein Biertrinkerbauch über den Jeans herunterhing.
    »Oh!«, sagte er und bekam große Augen, als Tamar vor ihm stand. »Unverhofft kommt oft, bitte hier herein...« Einladend trat er zur Seite und wies in seine Wohnung.
     
    Ü ber Gassen mit Kopfsteinpflaster und an Kneipen vorbei, in denen er auch dann nicht hätte einkehren wollen, wenn sienicht mit Touristen überfüllt gewesen wären, kam Kuttler zu einer breiten, in die Tiefe führenden Freitreppe. Unter ihm lag die Stadt, für einen langen Augenblick blieb er stehen und schaute. Es war wirklich: die Stadt , anders konnte er es nicht ausdrücken, irgendwo hatte er etwas Ähnliches gelesen, nein, nicht irgendwo, es war in Tilmans Tagebuch gewesen.
    Dabei war Tilman Gossler vermutlich gar nie hier gewesen, Luzie zumindest hatte so etwas behauptet. Für einen kurzen Moment war Kuttler versucht, sich vorzustellen, was Tilman jetzt und hier empfinden würde, aber dann verwarf er den Versuch gleich wieder, denn es stand außer jedem Zweifel, dass Tilman keinesfalls hierher gekommen wäre. Ausgeschlossen, dachte Kuttler und drehte sich um und betrachtete die Kuppel und die Türme von Sacré-Cœur, die im Licht der Strahler hoch über ihm bigott und alabastern in den Nachthimmel leuchteten.
    Was tat er hier, zwischen eher wenigen Liebespaaren und entsetzlich vielen Touristen? Selber Tourist!, wies er sich zurecht. Das Einzige, was dich von diesen anderen Leuten allenfalls unterscheidet, ist dein nächstes Disziplinarverfahren, und das bekommst du unweigerlich deshalb, weil du im Krankenstand hierher gefahren bist.
    Er warf einen letzten Blick auf die Kirche und wandte sich nach rechts, eine Straße führte in einem großen Bogen von der Anhöhe des Montmartre wieder hinab. Vor der Kirche war noch ein ständiges Kommen und Gehen gewesen, jetzt war er fast allein, ein Straßenschild zeigte an, dass er sich bereits wieder in der Rue Lamarck befand. Er kam an einem Restaurant vorbei, warf einen Blick auf

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