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Uferwald

Titel: Uferwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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auf der Theke abstellte und – als er die Hände wieder frei hatte – aus seinem Mantel das Taschenwörterbuch holte, das er vorsichtshalber mitgenommen hatte. Die Verkäuferin sah ihm dabei zu, freundlich lächelnd, sie war – so kam es Kuttler vor – nicht mehr ganz jung, das dunkle Haar war strähnig, und eine der Strähnen war schon weiß.
    »Sie können ruhig deutsch sprechen«, sagte sie, ohne jeden Anklang eines Akzentes, aber in einem Tonfall, der jedenfalls nicht hochdeutsch war. Eine Schweizerin?
    »Ach ja«, antwortete Kuttler, »woran... ?«
    »An Ihrem Wörterbuch habe ich es gesehen«, kam die Antwort. Sie hatte ein schmales Gesicht, mit großen dunklen Augen und einer weißen Haut, in die sich – das Neonlicht tat nichts, um es zu verbergen – um die Augen erste, sehr feine Falten eingegraben hatten. Und irgendwann muss sie, dachte Kuttler, gestürzt sein oder einen harten Schlag auf die Oberlippe erhalten haben, und die Wunde war nicht besonders gut genäht worden oder schlecht verheilt.
    Sie kam hinter der Theke hervor, um ihm Äpfel und Mandarinen herauszusuchen, und als sie an ihm vorbeikam, lächelte sie ihn noch einmal an.
    Das Lächeln war höflich oder vielleicht auch nur geschäftsmäßig, aber da es ihm galt oder weil es von ihr kam oder aus einem anderen, ungreifbaren Grund fühlte sich Kuttler fastfröhlich, fast wieder wach und lebendig. Sie steckte in einem Kleid, das farblos an ihr herunterhing und nichts von sich oder ihr hermachte, doch sie bewegte sich darin in einer Weise, die ganz unmittelbar und selbstverständlich jene Frage beantwortete, die er sich in den Augenblicken zuvor noch nicht einmal zu stellen gewagt hatte. Er hatte Solveig gefunden, die wahre und wahrhaftige Solveig aus Tilman Gosslers Tagebuch, so wenig ihre Erscheinung die war, die er erwartet hatte, und so wenig die Umgebung zu dem Bild zu passen schien, das er sich von ihr gemacht hatte.
    Sie hatte sich einen Plastikhandschuh angezogen und suchte ihm vier Äpfel heraus und einige Mandarinen.
    »Sie besuchen jemanden hier in Paris?«, fragte sie, als sie die beiden Tüten abwog. »Oder sind Sie beruflich hier? Irgendwie sehen Sie nicht wie ein Tourist aus – als ob Sie Ferien hätten, meine ich.«
    Kuttler tastete nach dem Pflaster auf seiner Stirn. Freilich können Touristen so aussehen. In aller Welt können sie eins über ihre dumme Rübe gezogen bekommen.
    »Sie haben Recht«, antwortete er, »eigentlich will ich jemanden besuchen.«
    »Eigentlich?«, fragte sie zurück. »Das hört sich an, als ob es noch nicht so recht gelungen ist...«
    »Vielleicht doch.« Dann fiel ihm ein, dass er noch einen Wein mit aufs Zimmer nehmen könnte, für den Fall, dass er nicht würde einschlafen können. Oder ein Bier? Nein, nicht in Frankreich.
    Sie empfahl ihm einen trockenen Bordeaux, er nahm ihn, und sie packte alles in eine Tüte. »Woher in Deutschland kommen Sie?«
    »Aus einem Dorf im oberen Neckartal«, antwortete er, »von der anderen Seite des Schwarzwalds also, denn Sie müssen aus Freiburg sein.«
    Sie antwortete nicht, und ihr Gesicht schien sich nicht zu verändern. Aber etwas war anders, mit einem Schlag anders,und plötzlich merkte er, dass es kühl war im Laden. Die Verkäuferin tippte die Rechnung in die Ladenkasse ein, und er griff nach seinem Portemonnaie, aber er hatte nur noch zwei oder drei Euro in Münzen darin, und so griff er nach seiner Brieftasche und zog mit ihr – fast zufällig – die kleinformatige broschierte Textausgabe von »Kommen. Gehen. Schweigen« heraus und legte sie auf die Theke. In seiner Brieftasche fand er einen Zwanzig-Euro-Schein und hielt ihn ihr hin.
    Sie reagierte nicht. Ihr Blick war auf die Broschüre gefallen, und sie hatte den Titel gelesen. Das sah er sofort. Hatte er das Heft mit Absicht so hingelegt? Er wusste es schon nicht mehr.
    Ihre Augen begegneten sich. Kuttler hatte das Gefühl, dass sie ihn ansah wie – ja, wie eben eine erwachsene Frau einen dummen Jungen ansieht, der sich einen peinlichen, albernen Scherz herausgenommen hat. Schließlich bemerkte sie, dass er ihr noch immer den Schein hinhielt, nahm ihn und gab das Wechselgeld heraus.
    Er steckte das Geld ein und auch die Brieftasche und die Broschüre, und während er das tat, zermarterte er sich den Kopf. Irgendeine Fortsetzung musste er finden, die eine und einzige, zielsicher ausgewählte Frage, die das Eis aufbrach, das sich nun plötzlich zwischen ihnen aufgetürmt hatte... Aber nichts.
    Er

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