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Uferwald

Titel: Uferwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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die ausgehängte Karte und die Preise darauf, schluckte und ging weiter und entdeckte einen Obst- und Gemüseladen, der noch geöffnet hatte. Arbeitete Solveig in einem solchen Geschäft? Er blieb stehen und tat, als ob er sich die Auslage ansähe und warf einen Blick in den Verkaufsraum, wo hinter der Theke ein grauhaariger Mann stand oder auf einem Hocker saß, eines langen Tages letzte Kunden erwartend.
    Kuttler ging weiter. In diesem oder einem anderen Laden. Jetzt gleich oder ein paar hundert Meter weiter. Wie lang sind diese Straßen? Kommt darauf an. Außerdem war es nicht wahrscheinlich, dass Solveig – so, wie Tilman sie beschrieben hatte – tatsächlich in solch einem Laden arbeiten würde. Vielleicht hatte sie es einmal getan, vorübergehend, und war nun seither in den Archiven der französischen Ausländerbehörde für alle Zeit und Ewigkeit als Verkäuferin in der Rue Lamarck registriert. Und selbst wenn sie tatsächlich irgendwo hier beschäftigt war, warum sollte sie ausgerechnet heute Abend dort sein? Und wenn sie es wäre und er träfe sie an und würde sie auch erkennen – was wollte er sie eigentlich fragen? Und vor allem: Was würde er sie fragen dürfen? Er war nicht im Dienst, er war eine Art von Tourist, ein komischer Mensch mit einem Pflaster auf der Stirn, entschuldigen Sie bitte, haben Sie damals in Ulm, das ist eine kleine Stadt in Deutschland, einen jungen Mann, Tilman Gossler, in den Tod gelockt?
    Die Lamarck wurde – etwas unterhalb seines Hotels – in spitzem Winkel von einer Rue Coulaincourt gekreuzt, der Autoverkehr wurde dichter, Kuttler musste einen Bus der Linie 86 vorbeilassen, Vespas furzten ihre Abgaswolken in die Straße, dann kam er an der Metro-Station vorbei und überwand sich dazu, in dem Café links vom Portal ein Glas Rotwein und ein Schinkensandwich zu bestellen. Erst als das Sandwich vor ihm stand, merkte er, wie hungrig er war.
     
    D ie Frau war über siebzig und bewohnte ein Appartement im Erdgeschoss, in das sie mit ihrem Mann Anfang der neunziger Jahre eingezogen war.
    »Damals war es gerade bezugsfertig geworden«, sagte sie, »wir hatten davor ein Haus, aber die Arbeit im Garten war meinem Mann zu viel geworden.« Die Frau war weißhaarig, mager und wirkte fahrig und aufgeregt, als habe sie schon lange keinen Besuch mehr gehabt. Es war die vierte Wohnung, an derenTür Tamar geklingelt hatte. Der Mann mit dem Bierbauch war erst vor vier Jahren eingezogen, und auch bei zwei anderen Wohnungen hatte sie vergeblich nachgefragt, ehe sie schließlich hierher verwiesen worden war.
    »Aber wir haben uns doch oft gefragt, ob es nicht ein Fehler war«, fuhr die Frau fort. »Es zogen hier immer mehr Leute ein, die... nicht, dass Sie denken, ich will mich über jemanden beklagen... und dann ist ja auch mein Mann krank geworden, da wurde vieles doch recht schwierig... aber darf ich Ihnen nicht doch etwas anbieten?«
    Sie saßen in einem Wohnzimmer, das mit Polstermöbeln voll gestellt war. Der Fernseher lief ohne Ton, die Vorhänge vor dem Panoramafenster waren zugezogen, und Tamar war sicher, dass auch der Rollladen heruntergelassen war. Die Wohnung schien sorgfältig gepflegt, und doch konnte sie den Geruch nach Alter und Zerfall wahrnehmen.
    »Solveig Wintergerst?«, sagte die Frau, »also ich weiß jetzt nicht mehr, ob das der Name war, wissen Sie, wir haben doch sehr für uns gelebt, und mein Mann war auch schon krank, aber einiges ist uns schon aufgefallen, ich meine, dass hier Leute eingezogen sind, wenn wir das früher gewusst hätten...«
    Tamar nahm einen neuen Anlauf. »Diese junge Frau hat öfter Besuch bekommen, Besuch von einem Rechtsanwalt Dannecker, groß, blond, er hat die Wohnung Stocketsrieder verwaltet, dort hat die junge Frau gewohnt. Vielleicht sind Sie dem Herrn Dannecker bei einer Eigentümerversammlung einmal begegnet?«
    »An die Frau Stocketsrieder erinnere ich mich«, antwortete die Weißhaarige, »das war eine sehr liebe kultivierte Dame, deswegen habe ich mich dann auch so gewundert... aber hätte ich ihr schreiben sollen? Ich meine, sie war dann ja im Altersheim, und das hätte sie doch nur beunruhigt. Und dann, wie Sie ganz richtig sagen, dieser Mensch war ja Rechtsanwalt, da will man ja auch keinen Ärger haben, wo mein Mann doch schon krank war... das verstehen Sie doch?«
    Sie verstehe das sehr gut, antwortete Tamar sanft.
    »Man hat ja gemeint, dass das eine nette junge Frau ist«, fuhr die Weißhaarige fort, »mit so einem hübschen

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