Uferwald
etwas zu verkaufen, schaut aber immer wieder zu mir her, als sei ihm nicht ganz klar, was ich hier soll oder in welcher Beziehung ich zu Solveig stehe.
Plötzlich überkam Tamar die Lust, mit irgendjemandem zu wetten: dass es nämlich der Januar oder Februar 1999 gewesen war, als Keull sich nach Paris verabschiedet hatte. Wo war Kuttler? Sie holte ihr Handy, aber wieder erreichte sie nur seinen Anrufbeantworter. Sie wartete auf das Startsignal und sprach dann:
»Hier ist Tamar, wir müssen wegen Solveig und diesem Keull reden. Vor allem muss ich wissen, ob du auf dieser Vernissage mit ihm gesprochen hast.«
Sie schaltete das Handy ab. Für einen kurzen Moment legte sie den Kopf in ihre beiden Hände, die Ellbogen auf dem Schreibtisch aufgestützt. In dieser Haltung, mit geschlossenen Augen, überlegte sie.
Was war zu tun?
Erstens war mit Solveig zu reden. Das ging aber nicht, weil aus Frankreich noch keine Antwort da war.
Zweitens war mit Alexander Keull zu reden. Auch das ging nicht, weil sie vorher wissen musste, was Kuttler mit ihm gesprochen hatte.
Drittens musste sie die Kraftfahrzeugzulassung anrufen: Wann waren welche Fahrzeuge auf die Eheleute Dannecker zugelassen? Und welche auf Keull, Alexander?
Viertens: Bei welcher Werkstatt war Dannecker Kunde? Und welche Rechnungen fanden sich in seinen Akten?
Fünftens: War Keull vorbestraft, wenn ja, warum? Wann war er wo gemeldet?
Sechstens musste sie mit den Benediktinern reden und – siebtens – womöglich auch noch mit den anderen Teilnehmern der Besinnungstage.
Ach du liebe Göttin!
Sie öffnete die Augen wieder, stand auf, holte die Aluminiumkanne aus dem Schrank, füllte sie am Handwaschbecken der Toilette mit Wasser für einen Tee, steckte den Tauchsieder ein und bereitete sich ruhig und systematisch auf einen Arbeitstag vor, den sie am Telefon verbringen würde.
K uttler hatte unruhig geschlafen. Dabei war das Bett nicht schlecht, wenn man erst einmal das Oberlaken und die Wolldecke, die unter der Matratze festgezurrt waren wie in einer preußischen Kaserne, soweit gelockert hatte, dass man darunter schlüpfen konnte. Irgendwann verirrte er sich in die Halle des Kunstvereins, plötzlich traf er den Kerl mit der Lederjacke, der Kerl kam auf ihn zu und deutete auf ihn, und nun sollte Kuttler mit ihm tanzen, denn im Kunstverein fand gerade ein Ball statt.
Als er aufgewacht war, duschte er und rasierte sich. Das Pflaster an der Stirn sah noch schmuddeliger aus als gestern und begann, sich an einer Ecke abzulösen. Er traute sich nicht, es abzureißen, und überlegte, ob er zu einem Arzt gehen sollte. Aber um sich die Fäden ziehen zu lassen, war es wohl noch zu früh.
Das Frühstück bekam er in einem engen, mit Holzstühlchen und Tischchen voll gestellten Raum, an dessen Wänden gerahmte Schwarzweißfotografien vom Montmartre und seinenTreppen hingen. Kuttler trank seinen Milchkaffee, eingeklemmt zwischen zwei entsetzlich munteren holländischen Ehepaaren, die offenbar einen sehr lustigen Abend erlebt hatten und sich nun gegenseitig aufzogen, dass die Vokale und Konsonanten nur so über den Frühstückstisch klabasterten. Zum Weißbrot und den Croissants gab es in Folie eingeschweißte Kleinportionen Konfitüre. Kuttler riss eine davon auf und bekam von der Aprikosenmarmelade klebrige Finger. Schließlich entfloh er den Holländern und der Marmelade, wusch sich in seinem Zimmer die Hände, sah sich noch einmal mit Widerwillen im Spiegel an und wagte erst jetzt einen Gedanken daran, was er eigentlich heute in Paris tun würde.
Gestern Abend hatte er Solveig gefunden. Gut. Aber er, Kuttler, hatte es vergeigt. Vermutlich hatte er alles falsch gemacht, was man nur irgendwie falsch machen konnte, so dass es nahezu unmöglich war, noch einmal zu ihr zu gehen und sie ganz einfach um ein Gespräch und eine Auskunft zu bitten: Ganz einfach ging jetzt gar nichts mehr.
Der Regen hatte aufgehört. Trotzdem zog er seinen Mantel an. Er würde jetzt erst einmal in die Stadt gehen, nicht schon wieder zum Montmartre hoch, sondern die Rue Lamarck hinunter, irgendwann müsste er dann zur Metrostation Guy Môquet kommen und könnte von dort zur Seine fahren oder was er sonst so anzuschauen Lust bekäme.
Als er das Hotel verließ, spürte er, wie frisch der Morgen war. Im Café neben der Station Lamarck-Caulaincourt saß ein einzelner Zeitungleser, auf der Straße begegneten ihm Hausfrauen mit Einkaufskörben und Rentner, deren kleine misswüchsige Hunde
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