Uferwald
hatte einen Kopf, um Pflaster daran zu kleben. Sonst war er zu nichts gut.
Kuttler nahm die Tüte und blickte noch einmal zu ihr hin. Sie stand an der Kasse, ihr Blick war geradeaus gerichtet, an ihm vorbei.
»Dann darf ich mich bedanken und Ihnen eine gute Nacht wünschen.«
»Das wünsche ich Ihnen auch.« Unverändert ging ihr Blick geradeaus über die Kasse, zu den Kisten mit Obst und Gemüse oder weit darüber hinaus, auch wenn dahinter die Wand war.
Traum, Erwachen
T amar ging durch die Flure des Neuen Baues, und nicht zum ersten Mal wunderte sie sich, dass sie fast so etwas wie Sympathie für dieses Gebäude empfand, zumindest sich mit ihm vertraut fühlte. Würde sie später einmal Heimweh empfinden? Das sicher nicht. Was hieß das überhaupt: später? Sie schüttelte den Kopf und schaute im Fernschreibraum vorbei. Nein, sagte Schaufler, wegen der Einvernahme der Wintergerst Solveig sei noch keine Antwort aus Frankreich da, aber dafür hätten die Heidenheimer Kollegen ein Fax geschickt, zwei schlecht, aber gerade noch leserlich kopierte Seiten, und wegen dem Bein müsse er noch einmal unter das Messer, da helfe alles nichts.
»Lass es bald machen«, meinte Tamar, »ich halt dir beide Daumen, dass es wieder richtig gut wird.«
Schaufler war vom Wagen eines Betrunkenen erfasst worden, als er eine Unfallstelle sicherte. Der Fahrer hatte vier Monate auf Bewährung bekommen, aber Schaufler war ein halbes Jahr im Krankenhaus gelegen und würde bis zu seiner Pensionierung im Fernschreibraum arbeiten müssen.
Im Büro der Pressestelle saß der Polizeisprecher vor seinem PC und verfertigte den Pressebericht für den heutigen Tag. »Hast du noch ein Tagblatt vom Samstag?«, fragte Tamar, und der Polizeisprecher deutete mit dem Daumen auf einen Stapel Zeitungen, der im Regal an der Türseite seines Büros lag, beugte sich wieder über die Tastatur, fand den gesuchten Buchstaben und schlug zu. Tamar brauchte etwas länger, bis sie denLokalteil vom Samstag und darin den Bericht über die Vernissage des Kunstvereins entdecke. Dem Artikel, den sie bereits am Samstag im Café Wichtig gesehen, aber damals nur überflogen hatte, waren mehrere Fotos beigefügt, eines davon zeigte unvermeidlicherweise den Oberbürgermeister bei seiner Ansprache, ein anderes einen kräftig aussehenden, schwarzlockigen Mann in Jeans und Lederweste, der vor einer Metallskulptur posierte, die auch schon auf den Werbeplakaten des Kunstvereins zu sehen gewesen war.
»Kann ich das mitnehmen?«
»Nimm nur«, sagte der Polizeisprecher und visierte den nächsten Treffer an.
In ihrem Büro machte sie erst einmal das Fenster auf, um den Geruch nach Putzmitteln zu vertreiben, denn es war der Mittwochmorgen, und mittwochs suchte die Putzkolonne das Dezernat I heim.
Die beiden Seiten des Faxes enthielten die Teilnehmerliste der Besinnungstage, die vom 27. Dezember 1998 bis 3. Januar 1999 in der Benediktinerabtei Neresheim stattgefunden hatten. Auf dem zweiten Blatt fand sie an dritter und vierter Stelle die Namen Dorothea und Wolfram Dannecker und deren Adresse im Ulmer Westen.
Na schön, dachte Tamar, das eilt jetzt nicht. Dann las sie noch einmal den Artikel durch. Der Mann mit dem schwarzlockigen, etwas grau durchsetzten Haar war Alexander Keull, der – wie das Tagblatt mitteilte –
...nach einem Studienaufenthalt in Paris und in Südfrankreich nun wieder in die schwäbische Heimat zurückgekehrt ist und jetzt auf einem alten Bauernhof in den Holzstöcken seine sensibel schwingenden und in eine sonst unerreichbare Höhe vorstoßenden Plastiken aus Schrott und Metall schmiedet.
Paris, dachte Tamar, legte die Zeitung zur Seite und holte aus ihrem Schreibtisch die Kopien, die sie sich von Tilman GosslersTagebuch gemacht hatte. Wieder dauerte es eine Weile, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Halblaut und murmelnd las sie es sich selbst vor:
Zu der Werkstatt gehört eine Art Wohnung, vielleicht könnte man es auch ein Wohnklo nennen, das nicht der Kroate selbst bewohnt, sondern der Künstler Sascha Keull als Gegenleistung dafür, dass er am Wochenende auf den Schrott aufpasst. Er ist ein großer, stämmiger Kerl mit einer lockigen schwarzen Mähne und dieser Ausstrahlung von Selbstbewusstsein, über die ich nichts weiter schreiben will und die vermutlich auch von gar nichts zu erschüttern sein würde, was immer mir dazu einfiele. Solveig ist die Kundin, aber er behandelt sie eher gleichgültig, als liege ihm gar nichts daran,
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