Uferwald
unermüdlich dabei waren, die Rinnsale auf dem Gehsteig zu erneuern. Im chinesischen Möbelgeschäft hätte er einen Buddha auf Raten kaufen können, und zwar ohne Aufpreis, das war der Witz dabei, falls er die Aufschrift auf dem Schaufenster richtig übersetzt hatte. Vor einem Büro, das noch geschlossen hatte, wartete eine Gruppe junger Leute, die meisten dunkelhäutig. Sie warten auf Arbeit, dachte Kuttler,denn sie zeigten die zugleich ergebene und entmutigte, aber auch angespannte Haltung, die jedem auffällt, der schon einmal ein Arbeitsamt betreten hat.
Eine zweite Gruppe von Menschen stand weiter unten. Auch sie schienen zu warten, aber auf andere Weise. Kuttler näherte sich ihnen, die Leute standen vor dem Laden, in dem er gestern gewesen war – dem Laden, in dem Solveig arbeitete. Die Auslagen waren weggeräumt, natürlich waren sie das, die bleiben nicht über Nacht draußen, dachte Kuttler, und wenn man so spät erst schließt, dann öffnet man auch später.
Er trat zu der Gruppe. Die Menschen starrten auf die Ladentür, sie war geschlossen, und sie hielten Abstand von ihr, soweit das auf dem engen Gehsteig möglich war. Kuttler schob sich hinter ihnen vorbei, dann sah er, dass in der Querstraße Blaulichter blinkten. Das vordere gehörte zu einem Polizeiwagen, der in einer Einfahrt geparkt war, dahinter stand ein zweites Einsatzfahrzeug, das nach Feuerwehr oder Rettungsdienst aussah.
Kuttler atmete tief durch. Er dachte nichts. Blind, automatisch wich er einem Auto aus, das von der Lamarck einbiegen wollte, und ging auf die andere Straßenseite. Auch dort standen schon Menschen und sahen zu dem Laden herüber. Der Autofahrer, der eingebogen war, versuchte zurückzustoßen, weil er nicht an dem Rettungswagen vorbeikam.
Die Ladentür war noch immer geschlossen. Aber innen brannte Licht. Ein- oder zweimal glaubte Kuttler ein kurzes Aufleuchten zu bemerken, also fotografierte jemand, und er benutzte dazu ein Blitzlichtgerät.
Neben ihm schob sich ein dicklicher Mann durch und blieb am Straßenrand stehen. Kuttler hörte, wie er seinen Nebenmann etwas fragte.
Der fuhr mit dem Finger um seinen Hals und hob die Hand hoch, in einer fast anmutigen Geste, als hielte er zwischen Daumen und Zeigefinger ein Seil.
T amar schenkte sich eine zweite Tasse Tee ein. Alexander »Sascha« Keull, 1972 in Reutlingen geboren, war tatsächlich vorbestraft: Einmal wegen Körperverletzung, offenbar weil er einen Zeitungsjournalisten verprügelt hatte. Damals war er mit einer Geldstrafe davongekommen, hatte sie aber nicht bezahlt und deshalb zwei Monate richtig einsitzen müssen. Ein zweites Mal stand er wegen Beleidigung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte vor Gericht, vier Monate auf Bewährung, er hatte sich also mit Polizisten angelegt. So etwas, dachte Tamar, kann einem ja sehr schnell eine Vorstrafe einbringen. Die Bewährungszeit hatte er straffrei überstanden. In Ulm war er nie gemeldet gewesen, seit Mitte 2003 aber in Greuthweiler im südlichen Alb-Donau-Kreis. Als Halter eines Kraftfahrzeugs war er erstmals im September 2003 eingetragen worden, als er einen Opel Caravan Baujahr 1988 angemeldet hatte. Im Juni 2004 wurde der Opel durch einen Toyota ersetzt.
Was bedeutete das? Dass an der Jahreswende 1998/99 Keull nicht als Fahrzeughalter verzeichnet war. Konkreter: Das Auto, mit dem man Tilman Gossler getötet hatte, konnte also nicht auf Keull zugelassen gewesen sein.
Kein Ergebnis hatte der Anruf in Neresheim gebracht. Nach einigem Warten war sie mit dem Prior des Klosters verbunden worden, der ihr in freundlichen, aber durchaus entschiedenen Worten erklärt hatte, er denke nicht daran, der Polizei über Menschen Auskunft zu geben, die sich im Kloster aufgehalten hatten.
»Das verstehe ich, Hochwürden«, hatte sie geantwortet, »dennoch wäre es für den Herrn Dannecker sehr hilfreich, wenn Sie an Hand Ihrer Unterlagen bestätigen könnten, dass er wirklich die ganze Zeit bei Ihnen gewesen ist.«
»Aber wenn wir das aus irgendeinem Grund nicht bestätigen könnten«, hatte der Prior zurückgefragt, »dann wäre das für diesen Herrn durchaus nicht hilfreich – oder irre ich mich da?«
Seufzend hatte sich Tamar danach der Teilnehmerliste zugewandt und begonnen, eine Adresse nach der anderen anzurufen,die dort vermerkt war. Waren Sie am Jahreswechsel 1998/99 in Neresheim gewesen? Erinnern Sie sich an ein Ehepaar Dannecker aus Ulm? Wissen Sie, ob die Eheleute die ganze Zeit...
Der erste
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