Uferwald
wie sollte das geschehen? Es gibt keine Unterlagen, absolut nichts, die ganze Buchführung, die ist hier drin!« Er tippte sich gegen die Stirn, aber das tat plötzlich weh. »Nirgendwo sonst«, fügte er hinzu, mit vorsichtiger, fast wieder kleinlauter Stimme.
»Ist das nicht riskant?«, fragte Wanja. »Das wäre doch schade, wenn dir was passiert. Du solltest es aufschreiben.«
Czybilla sah erschrocken hoch. Brötchen beugte sich über ihn. »Wanja hat Recht. Du wirst es aufschreiben. Für uns wirst du das tun.«
K riminalkommissarin Tamar Wegenast zog die Tür der Zweizimmerwohnung hinter sich zu, die sie vor einem halben JahrAuf dem Kreuz angemietet hatte, einem alten denkmalgeschützten Ulmer Viertel. Noch immer, wie am ersten Tag nach dem Einzug, genoss sie dieses Schließen der Tür wie ein Aufatmen, endlich war sie für sich und konnte für ein paar Stunden die Welt draußen lassen.
Kann man das Alleinsein lernen? Irgendwer hatte sie das einmal gefragt, und vermutlich hatte sie keine sehr intelligente Antwort gegeben. Es kommt auf den Versuch an, dachte sie, und dieses erste halbe Jahr der Lehre hatte sie jedenfalls hinter sich gebracht.
Sie zog sich aus und ging unter die Dusche, dann setzte sie Wasser für einen Pfefferminztee auf. Früher hätte man sie damit jagen können. Aber mit einer Flasche Wein lässt sich nur das Weintrinken lernen, nicht das Alleinsein. Sie machte sich ein Butterbrot mit etwas Schnittlauch, dann setzte sie sich im Bademantel vor den Fernseher und ließ die Zappe bei einem der Sportkanäle stehen, auf dem japanisches Stockfechten gezeigt wurde. Sicherheitshalber schaltete sie den Ton aus. Als sie das Brot gegessen hatte, fand sie, dass auch japanisches Stockfechten nicht unbedingt abendfüllend war. Du hast jetzt frei, ermahnte sie sich noch, aber da war sie schon aufgestanden und hatte aus ihrer Tasche den Ausdruck der E-Mail geholt, den ihr eine Kriminalbeamtin aus dem Kommissariat des XVIII. Pariser Arrondissements geschickt hatte, und dazu ihr französisches Wörterbuch.
Noch immer hatte sie keine klare Vorstellung von der jungen Frau, die sich im Alter von 34 Jahren an der Regalleiter eines Pariser Lebensmittelladens erhängt hatte. Die Beschreibung, die Tilman Gossler in seinem Tagebuch von Solveig gegeben hatte, war zumindest unzuverlässig, wenn nicht völlig unbrauchbar. Er hatte sie als eine Art Märchenprinzessin beschrieben, die ihm – angeblich – ins Leben geschneit war. Aber so spielt das Leben nicht. Märchenprinzessinnen schneien einem nicht ins Haus. Oder in die Kneipe.
Sie nahm sich die E-Mail vor. Soweit sie den Text verstand,hatte Solveig Wintergerst mit dem 57jährigen Inhaber des Ladens zusammengelebt, war aber nicht mit ihm verheiratet. Sie war in Frankreich nicht straffällig geworden, ihre Papiere waren in Ordnung, nur ganz am Anfang – noch bevor sie mit dem Gemüsehändler zusammengezogen war – hatte es eine plainte gegeben, eine Klage offenbar oder doch eher eine Strafanzeige wegen coups et blessures , wegen Körperverletzung, die Klage richtete sich gegen einen Keul, Alexandre, deutsche Nationalität, das Verfahren endete mit einem arrêt , mit einem Arrest? Unsinn: arrêt bedeutet, es war eingestellt worden.
Tamar überlegte. Kuttler hatte etwas von einer Narbe gesagt. Hatte Keull sie so zusammengeschlagen, dass sie entstellt war? Sie überlegte, ob sie Kuttler anrufen sollte. Lass es sein, dachte sie dann. Er ist krankgeschrieben, er ist nicht gut drauf, und von jemandem aus dem Neuen Bau wird er schon gleich gar nichts hören wollen.
Das Telefon schlug an.
Tamar warf einen Blick auf das Display. Das war ein Missverständnis. Von jemandem aus dem Neuen Bau will auch ich nichts hören. Dann nahm sie doch den Hörer ab.
»Ich hoffe, ich störe dich nicht«, meldete sich die Mädchenstimme von Tamars Kollegin Wilma Rohm, »du wolltest doch benachrichtigt werden, wenn etwas Neues über den abgängigen Keull, Alexander einläuft?«
»Ja?« Tamar wartete.
»Da hat gerade der Rechtsanwalt Petri angerufen. Der Herr Keull sei mit seiner Lebensgefährtin bei ihm, und er werde mit ihm morgen bei der Staatsanwaltschaft vorsprechen.«
Keull und Petri bei Desarts? Da ist sich jemand seiner Sache sehr sicher. Warum muss Keull dann erst davonlaufen? Egal.
»Danke«, sagte Tamar rasch.
»Da ist noch was«, sagte Wilma Rohm, »ich hab die Verkäuferin gefunden, die damals in dem Obststand gearbeitet hat, es ist eine Italienerin, aber ich kann
Weitere Kostenlose Bücher