Uferwald
aufgehängt hatte, kam zum Tisch. Ein Nicken für Luzie, ein Handschlag für die anderen, bei Kuttler blieb er kurz stehen:
»Sie sind dienstlich hier?«
»Nein«, sagte Kuttler. »Dienstlich ließe sich das gar nicht darstellen.«
»Aber dann verstehe ich nicht...«
»Ich bin mit Puck gekommen. Mehr ist nicht.«
Matthes zog die Augenbrauen hoch und sah sich in der Runde um, als wolle er sich vergewissern, dass die anderen der Anwesenheit Kuttlers zustimmen.
»Er spielt den Tilman«, erklärte Czybilla. »Nehmen Sie hier Platz, Mr. Archer, auf dem übernächsten Stuhl links von mir, und Luzie soll sich zwischen uns setzen, ich bin ganz sicher, dass wir damals so gesessen sind, und Schleicher ihr gegenüber, gleich sind wir alle sieben Jahre jünger...«
»Dann zieh erst mal deinen Bauch ein«, sagte Treutlein und wandte sich an Matthes. »Hör mal, was habt ihr da draußen mit dem Grundstück gedreht?«
D ie Vorhänge waren nicht zugezogen. Der Widerschein der Lichter des Fischerviertels hob die Umrisse des Fensters aus der Dunkelheit. Im Zimmer waren die Schreibtischlampe und der bläulich schimmernde Bildschirm des Computers die einzigen Lichtquellen. Kommissarin Tamar Wegenast las noch einmal ihren Bericht durch, speicherte ihn entschlossen ab und schickte ihn auf den Drucker.
Alles klar? Ja doch. Der Markthändler Simon Rotter hatte den Stadtstreicher Kaminski zum Krüppel gefahren, aber ein Schmerzensgeld hatte Kaminski nicht bekommen, weil es der Rechtsanwalt Dannecker unterschlagen hatte. Kaminskis Schachfreund Gossler sucht Dannecker auf, wird abgespeist, überlegt sich aber daraufhin, ob er sich an einen Polizisten wenden soll...
Nicht an irgendeinen Polizisten, ermahnte sich Tamar, du weißt ganz genau, an wen!
Aber bevor Gossler das tun kann, wird er totgefahren, auf dem Weg zu eben jener Solveig, die gemeinsam mit ihrem Liebhaber Keull dem Rechtsanwalt Dannecker das Geld abgenommen hat, das nicht ihm, sondern Kaminski gehört. Und totgefahren wird Tilman, damit er nicht zur Polizei gehen kann, damit die Geldquelle Dannecker nicht versiegt, ja, dass sie ganz im Gegenteil noch viel ergiebiger angezapft werden kann. So jedenfalls lautete die Argumentationskette des Staatsanwaltes Desarts, die zumindest einen Vorzug besaß: Keull hatte sichdarin verfangen. Und der hatte es nicht anders verdient, allein schon wegen des Schicksals von Solveig...
Alles in Ordnung also. Wirklich? Aus irgendeinem Winkel in Tamars Kopf meldete sich ein hässlicher kleiner Einwand. Warum gehst du nicht los, fragte der Einwand, und sperrst überhaupt jeden ein, der dir gerade über den Weg läuft? Egal wofür, irgendeine Niedertracht wird jeder begangen haben.
Sie hatte den Kopf in die Hand gestützt und die Augen geschlossen. Nicht so sehr, weil sie müde gewesen wäre. In einem kurzen Moment ertappte sie sich dabei, dass sie das Telefon zu sich herziehen und in Berlin anrufen wollte, bei jenem Polizisten, an den Tilman...
Was würde er sagen? Nicht viel. Wenn Desarts dieses Bonbon gebacken hat, würde er sagen, dann soll er es auch selber lutschen.
Trotzdem. Wieder ging ihre Hand zum Telefon. Noch ehe sie es berührt hatte, jaulte es wie ein geprügelter Hund in Vorahnung seines Herrn. Sie zog ein Gesicht, nahm aber den Hörer ab.
»Grüß Gott, Kollegin«, sagte eine Männerstimme in dem seltsam archaisch anmutenden, fast gutturalen Schwäbisch, wie es in den Gegenden zwischen Iller und Lech gesprochen wird, »Sie haben bei uns wegen einer Strafanzeige der Familie Rotter angerufen?«
Was hab ich? Dann fiel es ihr ein. Der Kollege war von der Polizei-Inspektion Illertissen, und sie hatte dort angerufen, als sie die Klage von Rotters Sohn über irgendwelche Verleumdungen gehört hatte.
»Das ist wirklich keine angenehme Geschichte gewesen«, fuhr der Kollege fort, »ich habe die Briefe und Postkarten selber gesehen. Immer die gleiche Schrift, immer anonym, meist Poststempel Ulm, eine eher ungeübte Männerhand, sagt unser Graphologe, und nicht nur an Rotter adressiert, sondern auch an Nachbarn, an den Bürgermeister und den Pfarrer.«
»Und was stand drin?«
»Drohungen. Zum Beispiel: Simon, kauf dir schon einen Rollstuhl. Oder: Rotter, geh heute nicht ins Wirtshaus. Ein anderes: Rotter, gib Acht, wer heute die Hand im Sack lässt... solches Zeug.«
»Da gibt es eine Erklärung dafür«, meinte Tamar.
»Ich weiß«, kam die Antwort. »Dieser Stadtstreicher, der von Rotter angefahren worden ist. Aber wissen
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