Uferwald
schließlicheilte das auch nicht, irgendwann würden sie auf einen Berg Altpapier kommen und eingestampft werden für alle Zeit und Ewigkeit. Genauso gut könnte er...
Er schüttelte den Kopf und goss seinen Tee auf. Das Tablett mit der Kanne und dem einen Becher, den er bisher besaß, brachte er zu seinem Korbsessel und stellte alles auf einen Bücherkarton. Der Tee musste noch ziehen. Das Tagebuch steckte in seinem Mantel, er holte es und schlug es auf.
Tilmans Tagebuch
Dritter Teil
Freitag, 19. Dezember
Es muss nach 22 Uhr sein, Bilch hat sein viertes Weizenbier vor sich stehen, in den Kinos sind die ersten Abendvorstellungen vorbei. Wir streiten über unsere Silvesterfeier, als Luzie – die schon den ganzen Abend geladen ist – die Stimme hebt, vielleicht etwas zu sehr, und der Geräuschpegel in der Kneipe plötzlich, wie erschrocken, absackt, so dass Luzies Rede über den Köpfen schwebt und dort hängen bleibt wie eine zornige grüne Comicblase:
»Wenn er dieses Scheißspiel bestellt hat, dann soll er es auch bekommen...«
Ich halte den Kopf gesenkt, aber nicht, weil ich mich besonders angesprochen fühle. Soll sie doch reden! Dann sehe ich mich vorsichtig um, die Leute kehren zögernd zu ihren Gesprächen zurück, der Bilch guckt in sein Bierglas, Schleicher blättert wie gedankenverloren in irgendwelchem Altpapier, welch ein Glück, dass er immer wieder neues findet und sich darin versenken kann und niemanden anschauen muss! Die ganze Wissenschaft lebt doch davon, dass der Kreislauf von Käuen und Widerkäuen niemals unterbrochen wird, aber es ist nicht das, was mir in diesem Augenblick durch den Kopf geht.
An der Tür steht eine Frau, in einem dunklen Cape, dessen Kapuze und dessen Schultern von Schnee bedeckt sind. Sie trägt keine Handschuhe, und die eine Hand hält noch immer die Kapuze ihres Capes fest, als zögere sie, ob sie sie zurückstreifen solle. Offenbar ist sie zum ersten Mal hier und weiß nicht, ob das die richtige Szene für sie ist. Von der Kälte oder dem Schnee, den ihr der Wind ins Gesicht ge trieben hat, sind die Wangen gerötet, in den Augenbrauen hängen Schneeflocken, und auch in den dunklen Haaren, die von der Kapuze nicht ganz bedeckt sind, haben sie sich verfangen. Ihre Augen sind groß und von einem dunklen Blau oder Grau.
Jetzt, drei oder vier Stunden später, bin ich mir ganz sicher, dass mir diese Augen sofort aufgefallen sind. Das ist merkwürdig. Wie will ich gesehen haben, dass sie blau oder grau sind, quer durch die Kneipe?
Luzie, zum Glück, hört zu reden auf und zündet sich eine Zigarette an.
»Habe ich das recht verstanden«, fragt Juffy, »wir wählen einen, der nächstes Jahr nicht mehr... wie soll ich sagen? Der nicht mehr kommen soll.«
»Nein«, sagt Luzie. »Wir wählen jeden, der nächstes Jahr an Silvester dabei sein wird. Eine oder einen nach der oder dem anderen. Bis eben einer übrig bleibt.«
»Und was ist mit dem?«
Luzie schnaubt eine Rauchwolke durch die Nasenlöcher. »Der weiß dann, dass die anderen ihn für entbehrlich halten.«
»Ich glaube«, sagt Juffy bedächtig, »dass das ein Scheißspiel ist.« »Meine Rede«, antwortet Luzie und deutet mit der Zigarette auf mich. »Es ist ja auch eine Idee von ihm.«
Ungefähr so, irgendwie so haben wir das wohl gesagt, aber was ich davon aufschreibe, ist so zuverlässig und abgesichert wie die Behauptung, ich hätte sofort gesehen – auf den ersten Blick –, dass die Frau mit der Kapuze graue oder blaue Augen hat. Mit dem Erinnern beginnt das Lügen.
Die Frau hat nun doch die Kapuze abgestreift und ist an die Theke getreten, die Typen dort – strauchbärtige Sozialarbeiter und Junglehrer im Endstadium vor der Verbeamtung, so viel ich sehe – machen ihr eher gleichgültig als bereitwillig ein Eckchen Platz. Irgendetwas bringt mich dazu, den Blick wieder von ihr abzuwenden, und als ich das tue, sehe ich, dass Isolde mich beobachtet. Sie hat mir zugesehen, wie ich der Frau zusehe, und für einen Augenblick bin ich zornig.
»Izzy-Schatz«, sagt der Bilch, »siehst du die Frau an der Theke? Die kann da nicht bleiben. Nicht unter diesen Hirngesteuerten. Sei lieb und geh hin und sag, dass sie sich zu uns setzen soll.«
Ich hätte nicht gedacht, dass Isolde überhaupt mit ihm redet, aber sie antwortet etwas in der Art, dass sie nicht daran denke, Bilch die Schnitten aufzureißen, und er solle gefälligst seinen Arsch selbst an die Theke bequemen. Aber Luzie meint, dass das keinen Sinn hat,
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