Uferwald
Solveig gar nicht zum Erzählen kommt. Ich höre zu und auch wieder nicht und versuche, nicht auf Solveig zu schauen, weil es mir doch zu peinlich ist, dazusitzen und wie ein Ochse zu glotzen, als hätte ich noch nie eine Frau gesehen.
Ist das komisch? Wahrscheinlich.
Irgendwann zahlt sie und will gehen, ich zahle auch und überlege, wie ich sagen soll, dass ich sie ein Stück begleite, das heißt, nicht einmal das Hohngelächter der Clique hätte mich daran gehindert, das zu sagen, sondern Solveig hat ihre Ente gleich um die Ecke geparkt, außerdem gehen die anderen auch, ich helfe noch, Luzies gestreifte Sardinenbüchse und Solveigs Deux Chevaux aus dem Pappschnee auszugraben, und sage Tschüß! und bekomme von Solveig einen Kuss auf die Wange, bis irgendwann! sagt sie noch, was immer das heißen soll, und dann gehe ich zu Fuß und allein durch das Schneetreiben nach Hause.
Jetzt kann ich nicht schlafen. Wenn ich ans Fenster gehe und die Augen abschirme, sehe ich, dass es immer noch schneit.
Samstag, 20. Dezember
Die Alte Frau hat mich heute Morgen ausschlafen lassen, war sogar einkaufen gegangen, was an den Samstagen sonst ich übernehme. »Du sollst nicht so viel arbeiten«, sagt sie beim Frühstück mit dieser Rührung in der Stimme, die allein schon unerträglich ist, auch ohne den Umstand, dass sie offenbar gehorcht hat, wie lange ich noch geschrieben habe und wann ich ins Bett gegangen bin.
Mir geht durch den Kopf, was wohl wäre, wenn eine Frau bei mir übernachten wollte, und ich schiebe den Gedanken gleich wieder weg. Wichtiger ist, dass die Alte Frau nicht ihre Nase in dieses Tagebuch steckt. Vorerst habe ich es in den Schutzumschlag eines Bandes »Materialien zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur« gepackt, das sollte nicht einmal sie aufschlagen wollen.
Ihre Rührung hält so weit an, dass sie mir zwanzig Mark unter die Kaffeetasse schiebt, mit dieser himmelschreiend beiläufigen Geste, die vergessen machen soll, dass zwanzig Mark sehr viel Geld für sie sind. Ich stecke den Schein ein und würge ein »Danke« über den Tisch.
Ich bin dann in die Stadt, zu Fuß, denn es liegt an diesem Morgen auf den Straßen so viel Matsch und Schnee, dass mit dem Fahrrad kein Durchkommen ist. In der Adventszeit, während der Dauer des Weihnachtsmarktes, ist der Wochenmarkt in die Seitenstraßen des Münsterplatzes abgedrängt; den Stand von Simon Rotter finde ich schließlich an der Nordseite des Münsters, er ist wie immer dicht umlagert und mit Plakaten behängt, auf denen Rotter alte Bauernregeln erklärt oder gegen die neue Regierung wettert, weil sie nichts gegen die Wasserverschwendung von Industrie und Großmolkereien tut. Er ist ein großer rotgesichtiger Mann mit einer kräftigen, weithin hallenden Stimme. Verdursten werde die Menschheit, nicht verhungern, predigt er, während er einen Sack Kartoffeln abwiegt, im Sommer sei eine ganze russische Millionenstadt auf dem Trockenen gesessen, zu Hunderttausenden seien die Menschen geflohen und aufgebrochen, eine frische Quelle zu suchen.
»Ja, das könnt ihr euch nicht vorstellen, da war kein Wasser mehr, keine Quelle, kein Brunnen, nichts, alles trocken, nur noch vertrocknete, giftige Gumpen voll Scheiße und Gift und Chemie, ja, ihr glaubt wieder, der Rotter übertreibt, aber es ist die Wahrheit und die Zukunft, darf’s ein halbes Pfund mehr sein, die Dame?«
So ungefähr.
Irgendwann erblickt er mich und fragt, »Und der junge Herr da? Womit kann man ihm dienen?«
Ich sage leise: »Erinnern Sie sich an Kaminski, an Rolf Kaminski?« An seinem Gesicht sehe ich, dass er mich sofort verstanden hat. Erst sagt er gar nichts, nur das Gesicht verändert sich, es zieht sich in die Länge, und plötzlich beginnt er zu brüllen, »Warte, Bürschchen!«, schreit er, »ich werd dich lehren, mein Geschäft zu stören und meine Kunden!«
Kaminski habe noch immer kein Schmerzensgeld bekommen, sage ich, das heißt, ich will es sagen, aber der Mann schreit und fuchtelt mit einem Knüppel, oder sind es bloß Sellerie-Stangen? Und die Leute weichen ein paar Schritte von mir zurück und betrachten mich wie – ich weiß gar nicht, wie sie mich anschauen. Ich gehe, und fast körperlich spüre ich den Hagel von Schimpfwörtern in meinem Rücken.
Ein paar Schritte weiter bin ich im »Wichtig«, das Café ist voll, an einem Ecktisch sehe ich Luzie, allein. Ich zögere, dann setze ich mich zu ihr und entschuldige mich zugleich, ich wolle ihr nicht auf
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