Uferwald
hat.«
»Bitte sehr«, sagte die Stimme. »Das Verfahren ist mit einem Vergleich abgeschlossen worden, einem – wie ich finde – sehr vorteilhaften Vergleich, Herr Kaminski hat zweihunderttausend Mark Schmerzensgeld erhalten, also rund einhunderttausend Euro, die von mir treuhänderisch für ihn verwaltet wurden.«
»Und nach seinem Tode?«
»Ist das verbliebene Vermögen entsprechend Kaminskis Testament verwendet worden. Was dachten Sie? Sie können die entsprechenden Unterlagen gerne einsehen, allerdings hätte ich von Ihnen dafür gerne einen richterlichen Beschluss vorgelegt bekommen. Wir leben ja nicht mehr im 19. Jahrhundert und müssen unsere Schreibtische aufsperren, wenn der Herr Schutzmann kommt...«
Das war’s, dachte Kuttler. »Ja, dann«, sagte er. »Mich hätte ohnehin mehr der persönliche Eindruck interessiert, den Sie von diesem Tilman Gossler gewonnen haben. Wie er aufgetreten ist. Was ihn bewegt hat. « Blöde Lüge. »Jedenfalls danke ich sehr für Ihre Auskunft.«
»Nichts zu danken«, sagte die Stimme. Vielleicht kam es Kuttler nur so vor, aber es klang, als sei sie von Hohn durchtränkt. Er legte auf.
»Kuttler!«, sagte eine andere Stimme. Es war Tamar. »Was treibst du da, und was ist das für eine Geschichte?«
Er stand auf, ging zu seinem Trenchcoat und holte das Tagebuch heraus. Dann legte er es Tamar auf den Schreibtisch. »Lies es.«
»Du hättest das schon längst zurückbringen sollen.« »Lies!«
A m Nachmittag waren neue Regenwolken aufgezogen, aber mit dem Rad waren es vom Eschental zur unteren Siedlung keine zwei Minuten. Von der Kreuzung am Hochhaus staute sich der Verkehr zurück, natürlich war die Radspur trotz derMarkierung blockiert, so fuhr Harald Treutlein links an der Schlange vorbei. Vor der Ampel stieg er ab und schob das Rad über den Fußgängerstreifen und auf dem kleinen Platz an der Bankfiliale vorbei, in der noch Licht brannte. Der Bilch noch fleißig beim Spekulieren, wie? Marion – Rebeccas Mutter – wohnte in einer der kleinen Reihenhauszeilen aus den sechziger Jahren, es musste die zweite oder dritte auf der anderen Seite des Hochhauses sein.
Treutlein hatte Marion über den Freien Kindergarten kennen gelernt, und näher gekommen waren sie sich bei der Arbeit für die Bürgerinitiative Eschental. Aber er war noch nie bei ihr gewesen. Er blieb stehen und sah sich um. Die Reihenhauszeilen hatten keine einzelnen Straßennamen, so dass er sich nach den Hausnummern richten musste, Bischof-Moser-Weg 21 musste die dritte Zeile sein. Er schob sein Rad weiter, am Wartehäuschen der Buslinie 4 vorbei, in dem ein einzelner Mann stand, er war groß und breitschultrig. Der Bus würde erst in einer Viertelstunde kommen, dachte Treutlein, hier in die untere Siedlung kamen immer mehr Leute, von denen man nicht wusste, was sie so den lieben langen Tag über taten oder zu arbeiten hatten.
Bei der Nummer 21 sah er auf den ersten Blick, dass er richtig war: Heckenrosen im winzigen Vorgarten, das Namensschild getöpfert, Kinderzeichnungen und Scherenschnitte in den Fenstern. Marion öffnete ihm, kaum dass er geklingelt hatte. Sie trug einen schwarzen Hausanzug, der sehr leicht aussah und sehr knapp saß. Im Hintergrund lief ein Videorekorder, am Ton erkannte Treutlein das Märchen vom Kasperl, der ein Buch findet, das er nicht lesen kann.
»Ach, leg doch bitte ab«, sagte Marion, »bei uns ist immer kräftig geheizt, ich mag es einfach warm und kuschelig.« Treutlein schälte sich aus seinem Regenzeug, sie stand neben ihm und wartete, um ihm den Anorak abzunehmen, und während sie so stand, sah er, dass der Ausschnitt des schwarzen Hausanzugs sehr weit geöffnet war und dass sie darunter keinen BHtrug. Eigentlich musste sie sehen, dass er es sah, aber sie lächelte ihn nur an.
»Thomas ist nicht da?«
Nein, Thomas war in Köln, aber er hatte ihr alles gesagt, so dass sie am nächsten Tag alleine mit der Druckerei klarkommen würde. »Ich hab auch schon einen ersten Entwurf«, meinte sie und ging Treutlein voran in ein kleines Arbeitszimmer zu einem bereits eingeschalteten Computer, dessen Bildschirmschoner eine Blondine im Bikini zeigte. Unwillkürlich wischte sich Harald Treutlein mit der Hand über die Stirn, es war wirklich sehr warm in der Wohnung. Dann zog er sich den Hocker heran, der vor einem Regal voller Aktenordner stand, und setzte sich neben Marion.
Sie rief ein Programm auf, und auf dem Bildschirm erschien das Foto eines in einem Sandkasten
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