Uferwald
Protest der Dienstleistungsgewerkschaft aus, den eine solche Anweisung unweigerlich zur Folge haben würde. Abscheu und Empörung! Menschenverachtende soziale Kälte! Leider war die Dame nervlicher Erschöpfung wegen krankgeschrieben, ganz davon abgesehen, dass Luzie jetzt keine Dienstanweisungen mehr zu schreiben hatte, sondern erst einmal eine Aktennotiz zu ihrer eigenen Rechtfertigung.
Nichts davon war wirklich lustig. Auch der Pfarrer, der jetzt hereinkam und einen prüfenden Blick über Sarg, Blumen und die fünf Trauernden schweifen ließ, war schon vergnügter gewesen. Sie waren sozusagen Leidensgefährten, dachte sie merkwürdig gerührt, der unbemerkte Tod der Charlotte Gossler schmückte die Heimstätten nicht und auch nicht die Kirchengemeinde von Pfarrer Johannes Rübsam.
Übrigens hätten es ruhig etwas mehr als fünf Trauernde sein können. Schleicher zumindest hätte kommen müssen, erst sein absurder Vorschlag, eine Art Staatsbegräbnis zu inszenieren, und jetzt... Hinter ihrem Rücken hörte sie eine Tür aufgehen, sie hörte Schritte auf leisen Sohlen, sie drehte sich um und sah Czybilla, dunkler Anzug, dunkle Weste, schwarze Krawatte, das ging ja noch, aber eine Krawattennadel mit Perle, Bilch! Hinter ihm kam Schleicher, Czybilla ließ ihn zuerst Platz nehmen, dann setzte er sich selbst auf den äußersten Stuhl in die Reihehinter Luzie, als brauche sein in die Weste eingepackter Bauch mehr Freiheit. Auch Schleicher steckte in einem dunklen Anzug und sah darin so aus, als übe er bereits für die Vereidigung im Landtag. Was hätte Tilman wohl gesagt, dachte Luzie, wenn er sie so gesehen hätte: Anzugträger, kostümiert mit der eigenen Wichtigkeit.
Pfarrer Rübsam ging zu einem Pult und hielt kurz inne. Luzie hörte, wie sich noch einmal die Türe öffnete, ein knapp mittelgroßer Mann setzte sich ganz außen in die hinterste Reihe: Jeans, Tweedjacke, schwarzer Trauerflor am Ärmel, aber kariertes Hemd. Luzie registrierte, dass sich auch Juffy umgedreht hatte und dem Neuankömmling zunickte. Fragend sah sie zu ihrem Nebenmann, der beugte sich zu ihr und flüsterte, die Hand vor den Mund haltend: »Kripo.«
Die Orgel setzte ein, Luzie atmete noch einmal scharf durch, fest entschlossen, sich nicht zu Tränen rühren zu lassen. Aber, was zum Teufel, hatte die Polizei hier in der Aussegnungshalle zu suchen? Wenn mit dem Tod der alten Frau Gossler etwas nicht in Ordnung war, wieso durfte sie dann verbrannt werden? Eben das würde jetzt geschehen, und die Urne mit der Asche würde zu Tilman ins Grab gegeben werden, so hatte es Charlotte Gossler bestimmt, überhaupt muss sie eine sehr bestimmende alte Frau gewesen sein, früher war ihr das gar nicht so klar gewesen, oder doch? Das eine oder andere Mal war sie ja in der Gosslerschen Wohnung gewesen, die Frage, ob sie dort eine Nacht würde verbringen können oder wollen, hatte sich damals so wenig, ja überhaupt nicht gestellt, dass es ihr eben erst aufgefallen war, gibt es in einer Aussegnungshalle keine anderen Themen, an die sie denken konnte?
... Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe...
Was las der Pfarrer da? Einen Psalm? Hat die alte Frau Gossler wirklich gerufen? Und wenn ja: wen? Wenn es wahr ist, wasihr Rübsam gesagt hatte, dann hatte sie das eben nicht getan. Besuche habe sie sich freundlich, aber auf das Nachdrücklichste verbeten, hatte er ihr erzählt, und eigentlich konnte sie sich das auch ganz gut vorstellen. Da wird einem der Sohn totgefahren, was kann man da fremde Leute in der Wohnung brauchen, die auch noch glauben, sie könnten einen trösten! Bei Tilmans Beerdigung war das schon zu sehen gewesen, die Frau Gossler hatte durch sie hindurch gesehen – ja, als ob sie, Luzie, aus Glas gewesen wäre, vermutlich hatte die alte Frau zuvor eine halbe Schachtel Beruhigungsmittel geschluckt, wäre ja kein Wunder gewesen...
... Ich bin ausgeschüttet wie Wasser,
alle meine Knochen haben sich voneinander gelöst;
mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs...
Pfarrerchen, dachte Luzie, nicht so konkret, nicht die zerschmolzenen Innereien der Frau Gossler! Allein der Gedanke, dass die Urne mit der Asche seiner Mutter in Tilmans Grab gelegt werden würde, war für sie hart an der Grenze gewesen, es kam ihr tatsächlich vor wie ein fortgeschrittenes und anhaltendes Klammern, oder wie sonst hätte man das nennen sollen? Vermutlich waren es diese
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